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Generationenübergreifende Folgen

26 Jahre nach Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina sind die Konsequenzen für die Überlebenden sexueller Gewalt immer noch spürbar. Die meisten sprechen bis heute nicht über ihre Erfahrungen, aus Angst vor Stigmatisierung und Scham. Eine internationale Konferenz in Sarajevo widmet sich den generationenübergreifenden Folgen und dem Umgang mit diesem tabuisierten Aspekt des Bosnien-Krieges.

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Während des Bosnien-Krieges von 1992 bis 1995 wurden unterschiedlichen Schätzungen zufolge 20.000 bis 50.000 Frauen Opfer sexueller Gewalt. Auch Männer waren Opfer von Vergewaltigungen. Die Täter stammten aus allen Konfliktparteien, die meisten jedoch waren Soldaten und paramilitärische Einheiten aus Serbien und der bosnisch-serbischen Republik. Die meisten Opfer waren muslimische Bosnierinnen.

Scham und Schande

Sexuelle Gewalt als eine Form der Kriegsführung wurde hauptsächlich gegen die bosnisch-muslimische Bevölkerung eingesetzt. Ziel war eine „ethnische Säuberung“ Bosniens. In der patriarchalen Gesellschaft des Landes gilt sexualisierte Gewalt an Frauen als eine Demütigung der Männer, die nicht in der Lage seien, ihre Frauen zu schützen. Durch die Vergewaltigungen und die Geburt „serbischer Kinder“ sollten auch die bosnisch-muslimischen Frauen gebrandmarkt werden.

Für sie waren die Vergewaltigungen eine unauslöschliche Schande. Als Ehefrauen galten sie fortan als „wertlos“. Führte die Vergewaltigung zu einer Schwangerschaft, waren die Möglichkeiten der Frauen begrenzt – manche wurden gezwungen, die Kinder auszutragen, andere zu einem Schwangerschaftsabbruch genötigt. Über die Zahl der Kinder, die infolge der Vergewaltigungen geboren wurden, ist wenig bekannt.

Anspruch auf Kriegsinvaliditätspension

Die Überlebenden sexueller Gewalt und ihre Kinder sind erst in den vergangenen Jahren ein wenig mehr ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Die Aufklärung der systematischen Vergewaltigungen im Bosnien-Krieg bleibt dennoch schwierig, weil die Überlebenden meist schweigen.

Monika Hauser von Medica Mondiale

Michal Korhel

Konferenz in Sarajevo

Konferenz in Sarajevo

Eine internationale Konferenz in Sarajevo widmete sich den transgenerationellen Perspektiven sexueller Gewalt in Konfliktsituationen, organisiert von dem EU-geförderten Forschungsnetzwerk „Children Born of War“.

Politiker und Historiker in Bosnien vernachlässigten das sensible Thema, so Monika Hauser, Vorsitzende der Frauenrechtsorganisation medica mondiale, die Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt seit 25 Jahren unterstützt, und Esmina Avdibegoviv, Professorin an der Universität Tuzla. Beide fordern für die betroffenen Frauen einen leichteren Zugang zu medizinischer und psychologischer Versorgung, Rechtsbeistand und ökonomischen Unterstützungsleistungen.

Seit 2006 haben Frauen, die Opfer sexualisierter Kriegsgewalt wurden, die Möglichkeit, eine Kriegsinvaliditätspension in Anspruch zu nehmen. Das Gesetz der bosnischen Regierung, erkämpft durch Aktivistinnen, sei eine begrüßenswerte Maßnahme, so Hauser. Jedoch sei die Umsetzung nicht gelungen. In der Praxis zeigt sich, dass Mitarbeiter in den Behörden nicht ausreichend für die Arbeit mit den traumatisierten Antragstellerinnen sensibilisiert seien und die Bearbeitung mehrere Monate in Anspruch nehme.

Entschädigung möglich

Im Juni 2015 sprach ein Gericht in Bosnien erstmals einer während des Krieges vergewaltigten Frau eine Entschädigung zu. Zwei Soldaten wurden wegen der Vergewaltigung einer damals minderjährigen Kroatin in einem nordbosnischen Dorf verurteilt. Die Entscheidung des Gerichts in Sarajevo lautete jeweils zehn Jahre Haft und Zahlung einer Entschädigung in Höhe von umgerechnet 13.500 Euro an das Opfer.

Die Gerichtsentscheidung war die erste ihrer Art in Bosnien und den anderen Staaten Ex-Jugoslawiens. Opfer von Vergewaltigungen während des Bosnien-Krieges waren zwar lange zuvor aufgefordert worden, Ansprüche geltend zu machen. Die Umsetzung ist jedoch auch hier problematisch, wie Aktivistinnen betonen. Aus Scham und Angst vor Stigmatisierung beantragten generell nur wenige Frauen die Entschädigung.

Das Schicksal der Kinder

Kinder, die infolge von Vergewaltigungen während des Bosnien-Krieges geboren wurden, sind mit Diskriminierung und Stigmatisierung konfrontiert. Sie werden „Bastarde“ und „Tschetniks“ genannt oder sind anderen erniedrigenden Bezeichnungen ausgesetzt, je nach ethnischer Herkunft und Region. Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass ein Teil der Betroffenen keine Kenntnis über ihre biologische Herkunft hat.

Die UNO-Menschenrechtskommission definierte im Jahr 1993, nicht zuletzt aufgrund von Berichten aus Bosnien, sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen. Auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag ahndet seit seiner Gründung im Jahr 1993 die Verbrechen während des Balkan-Konflikts. Kinder, die infolge der Vergewaltigungen zur Welt kamen, sind jedoch bis heute nicht offiziell als Sekundäropfer sexueller Gewalt anerkannt. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema kommt nur langsam in Gang.

Folgen auch in der nächsten Generation

Im Rahmen der Konferenz in Sarajevo wurden Forschungsergebnisse zur seelischen Gesundheit, Identität und Zugehörigkeit von Überlebenden und deren Kindern präsentiert. Die Isolation und Stigmatisierung der Frauen habe große Auswirkungen auf die Folgegeneration, so Hauser. „Die infolge von Vergewaltigung geborenen Kinder weisen im Vergleich zur gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen auf, darunter etwa somatoforme Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen“, sagt auch Amra Delic von der Universität Greifswald.

Kinder am Wort

Bei der Konferenz kamen Überlebende sexueller Gewalt und deren Kinder zu Wort. Viele Kinder wuchsen aufgrund der Lebensumstände ihrer leiblichen Mütter in Heimen oder bei Pflegeeltern auf. „Erst von meinen Adoptiveltern habe ich Liebe und Geborgenheit erfahren“, sagt ein Betroffener. „Meine leibliche Mutter ist eine starke Frau, mein Vorbild“, so eine andere Betroffene. "Wir verdienen eine bessere Lebensqualität in unserem Land“, sagt sie in Bezug auf die mangelnde Sichtbarkeit und fehlende staatliche Unterstützung für die „Kinder des Krieges“.

Die Autorinnen und der Autor

Das von der EU geförderte Forschungsnetzwerk „Children Born of War: Past-Present-Future“ untersucht die Lebens- und Sozialisationsbedingungen von „Kindern des Krieges“. Die Autorinnen Sophie Roupetz (Uni Leipzig), Lisa Haberkern (Uni Katowice) und der Autor Lukas Schretter (LBI Kriegsfolgenforschung, Graz) forschen im Rahmen des Netzwerks.

Eingeschränkte Handlungsspielräume

Aktivistinnen und Aktivisten und Überlebende gründeten 2016 in Bosnien die NGO Forgotten Children of War. Es ist die erste Anlaufstelle für Kinder, die infolge von Vergewaltigungen während des Bosnien-Krieges geboren wurden. Für die Mütter gibt es bereits seit den 1990er Jahren Therapiezentren („Safe Spaces“), in denen Traumatisierte psychosoziale Unterstützung erhalten.

Ein großes Problem sei der fehlende Austausch zwischen NGOs und Regierungsbehörden, und aufgrund von Tabuisierung sei die Zahl der Hilfesuchenden noch gering, sagt Delic. Maßnahmen sind nicht nur wichtig für die Aufarbeitung von Einzelschicksalen, sondern müssen ganze Familien und die Gesellschaft umfassen. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Bosnien-Krieg sind es NGOs, Überlebende und ihre Nachkommen, die den gesellschaftlichen Dialog über sexualisierte Kriegsgewalt und deren Folgen vorantreiben.

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