Bilanz wirft politische Fragen auf
Die Bevölkerung war herzlich, die Polizei hat gelächelt, die modernen Stadien ließen keine Wünsche offen - die offizielle Bilanz zur Fußballweltmeisterschaft in Russland fällt äußerst positiv aus. Doch abseits der medienwirksamen Inszenierung ziehen nach dem Finale auch kritische Stimmen ihr Resümee.
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Von den 64 Spielen der Fußball-WM besuchte der russische Präsident Wladimir Putin nur zwei: das Eröffnungsspiel und das Finale. Bei diesen Gelegenheiten präsentierte er sich als aufgeschlossener Gastgeber dieses internationalen Großereignisses. Bei allen anderen Spielen glänzte er mit Abwesenheit - mit dem Ausscheiden der russischen Mannschaft aus dem Turnier wollte er sich wohl nicht assoziieren lassen.

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Emmanuel Macron jubelte mit der französischen Mannschaft beim Finale - und stahl Wladimir Putin dabei die Show
Putins Regenschirm hatte Priorität
Anlass für Häme im Netz lieferte der umstrittene Politiker bei diesen Gelegenheiten dennoch: Die Bilder von Putin, dem Chef des Weltfußballverbands (FIFA), Gianni Infantino, und dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman auf der VIP-Tribüne bei der Eröffnung ließen viele Twitter-Nutzer und -Nutzerinnen fragen, „wie man nur so viel Korruption in ein Bild packen könne“.
Und beim Finale setzte sich Putin durch sein „trockenes“ Auftreten in Szene: Erst lächelte er milde auf der Tribüne und überließ die Emotionen seinen französischen respektive kroatischen Amtskollegen Emmanuel Macron und Kolinda Grabar-Kitarovic.

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Während Putin „abgeschirmt“ wurde, mussten Infantino, Macron und Grabar-Kitarovic im prasselnden Regen gratulieren
Dann ließ er die beiden bei der Siegerehrung im Regen stehen, während ihn ein Sicherheitsmann mit einem Schirm vor dem gewaltigen Wolkenbruch schützte. Als ein subtiles „Russia first“ interpretierten einige Beobachter und Beobachterinnen die Szenerie.
„Selbst die Polizei hat stets gelächelt“
Infantino, der die Finalfeier ebenfalls komplett durchnässt hinter sich brachte, hatte jedenfalls nur lobende Worte für die WM-Gastgeber. Selbst die Polizei habe stets gelächelt, er habe sich wie ein Kind in einem Spielzeuggeschäft gefühlt, sagte Infantino laut der britischen Zeitung „Guardian“.
Und Putin applaudierte sich gewissermaßen selbst: Russland sei ein freundliches Land, resümierte der umstrittene Politiker. Gastgeber der Fußball-WM gewesen zu sein, habe dazu beigetragen, Mythen und Vorurteile der ausländischen Gäste zu zerbrechen.
Einziger Protest beim Finale
Dieser Einschätzung widersprach die politische Performancegruppe Pussy Riot mit einer Aktion während des Finalspiels: Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit flitzten drei Frauen und ein Mann in Polizeiuniformen gekleidet über das Spielfeld. Neben den offiziellen Sicherheitsleuten versuchte auch der kroatische Verteidiger Dejan Lovren einen der Flitzer vom Platz zu zerren.

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Der kroatische Verteidiger Dejan Lovren versuchte einen der Pussy-Riot-Aktivisten vom Spielfeld zu zerren
Zwei Wochen Haft
Pussy Riot erklärten sich unmittelbar danach auf Facebook für die Aktion verantwortlich. Man habe damit auf die Missachtung von Menschenrechten in Russland aufmerksam machen wollen, fordere die Freilassung politischer Gefangener und mehr politischen Wettbewerb in Russland. Die Aktivisten wurden danach sofort verhaftet.
Alle vier wurden am Montag von einem Gericht in Moskau zu einer Haftstrafe von 15 Tagen verurteilt. Außerdem dürfen sie in den kommenden drei Jahren keine Sportveranstaltungen besuchen. Das Gericht warf den Aktivisten vor, „die Regeln für das Verhalten von Zuschauern grob verletzt“ zu haben, und verurteilte die Angeklagten deshalb zur Höchststrafe für dieses Vergehen.
Beispiellose Investitionen in „Gastfreundschaft“
Die Pussy-Riot-Flitzer lieferten damit den einzigen politischen Protest, den internationale Medien registrierten. Zu Ausschreitungen russischer Hooligans, die sich bei der vergangenen Fußball-EM in Marseille noch Straßenschlachten mit englischen Fans geliefert hatten, kam es in Russland nicht. Bedenken zu Menschenrechtsproblemen konnten die laut FIFA „beste WM aller Zeiten“ nicht überschatten.
Die finanziellen Anstrengungen der Gastgeber waren in jedem Fall beispiellos: Die russischen Wirtschaftszeitung „RBK“ errechnete Gesamtinvestitionen des Landes in die WM von fast zwölf Milliarden Euro. Es wurden knapp 100 neue Trainingsplätze angelegt. Sieben der zwölf Turnierstadien wurden neu gebaut, die übrigen aufwendig renoviert. Dass diese Stadien nach dem Ende der WM noch ausverkauft sein werden, gilt als unwahrscheinlich. Die meisten sind eigentlich Heimat von Zweitligisten. In Sotschi wurde extra ein Club geschaffen, um das dortige Fischt-Stadion zu bespielen.
Werbung wichtiger als Anti-Rassismus-Kampagne
Zwar kam es während der WM zu keinen nennenswerten Protesten außerhalb der Stadien, die FIFA selbst sorgte aber für eine Kontroverse: Die Gewichtung der Disziplinarstrafen vonseiten des Fußballverbandes wurde wiederholt kritisiert. Denn die stand nicht unbedingt im Einklang mit dem vom Weltverband propagierten Kampf gegen Diskriminierung im Fußball. „Die großen Unterschiede bei den Strafen schicken ein falsches Signal“, sagte Kurt Wachter von Fairplay - Initiative für Vielfalt und Antidiskriminierung im Fußball.
Ein Plakat russischer Fans mit einem Code, der für „Heil Hitler“ steht, zog eine Strafe in der Höhe von rund 8.500 Euro nach sich. Dem serbischen Fußballverband wurde wegen eines „politischen und beleidigenden Banners“ in der Fankurve eine Strafe von rund 17.000 Euro auferlegt. Finanzielle Lappalien im Vergleich zu den Strafen, die Vergehen gegen die Werbe- und Marketingregeln der FIFA nach sich ziehen: Socken und Getränke nicht lizenzierter Marken zogen mehrere Strafen über 60.000 Euro nach sich.
„Das ist nur Fußball“
Das Resümee politischer Beobachter und Menschenrechtsaktivisten fällt ebenfalls mau aus. Andrej Kolesnikow vom Carnegie Moscow Center, einem Thinktank für nationale und internationale Politik, glaubt beispielsweise nicht daran, dass die WM einen langfristigen politischen Effekt haben könnte.
„Das ist nur Fußball, es bringt kein demokratisches Denken“, sagte er gegenüber der dpa. Die Russen würden durch die WM nicht freier, Polizisten nicht freundlicher. Am Ende finde sich jeder in der Realität wieder, „inmitten einer weiteren Putin-Amtszeit“.
Menschenrechte sind und bleiben Thema
Auf die Menschenrechtssituation in Russland dürfte sich die WM ebenfalls nicht ausgewirkt haben. Neben Putin nützte auch der autoritär herrschende Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, die Großveranstaltung für positive mediale Aufmerksamkeit. Er zeigte sich wiederholt mit dem ägyptischen Stürmerstar Mohammed Salah und verlieh dem Fußballer auch die tschetschenische Staatsbürgerschaft.
Minky Worden, Direktorin der Organisation Human Rights Watch, kritisierte in diesem Zusammenhang, dass die WM sicherlich Putin und Kadyrow genützt habe, aber sicher nicht den Menschenrechten. Ein Problem, das auch bei der kommenden Weltmeisterschaft in Katar 2022 Thema sein wird.
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