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Erhöhte Überhitzungsgefahr

Der Verfall der türkischen Lira knapp vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei schadet dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Dessen politische Stärke leitet sich nach Ansicht des Ökonomen Richard Grieveson vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) vom Wachstum der letzten Jahre ab. Eine absolute Mehrheit im ersten Wahlgang hält er für unwahrscheinlich.

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„Aktuellen Umfragen zufolge liegt Erdogans islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei 45 bis 50 Prozent“, sagte der WIIW-Experte. Bei der Präsidentschaftswahl sei die Zustimmung für den amtierenden Staatschef etwas geringer, zwischen 40 und 45 Prozent. Die größte Konkurrenz für die AKP seien die säkulare, Mitte-links stehende Partei CHP und deren Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince sowie die neu gegründete nationalistische Iyi-Parti („Gute Partei“) der ehemaligen Innenministerin Meral Aksener. Besonders in den Städten verliere der autoritäre Staatschef an Zustimmung. Das habe sich 2017 bei dem Referendum zur Einführung des Präsidialsystems gezeigt, so der britische Analyst. Eine knappe Mehrheit stimmte damals dafür.

Enorme Einkommensunterschiede

Der große politische Rückhalt Erdogans bei der ländlichen Bevölkerung erkläre sich durch das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre. Lag es 2016 noch bei 3,2 Prozent, waren es 2017 bereits 7,4 Prozent. Auch im ersten Quartal 2018 setzte sich der positive Trend fort. „Die Lebensbedingungen haben sich seit Beginn der Regierungszeit der AKP deutlich verbessert“, so Grieveson. Mit dem aktuellen Währungsverfall und der hohen Inflation könnte das jedoch ein Ende haben. Die Einkommensunterschiede seien in der Türkei sehr hoch, sagte der Experte zur Ausgangslage. „Von den Mitgliedsstaaten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm.) hat die Türkei nach Mexiko und Chile die größte Ungleichheit und weist einen ähnlich hohen Wert wie die USA auf.“

Das über einen langen Zeitraum anhaltende Wirtschaftswachstum, der Bankensektor und der stabile Staatshaushalt sind nach Ansicht von Grieveson die drei großen Stärken der türkischen Wirtschaft. Die AKP führe seit Langem eine sehr verantwortungsbewusste Budgetpolitik und habe kein hohes Defizit, so der Ökonom. Die Türkei sei daher in einer für die Region starken Position: „Von allen 22 Ländern in Zentral-, Ost- und Südosteuropa (CESEE), die das WIIW beobachtet, ist die Türkei das einzige, das im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt eine geringere Staatsverschuldung hat als vor zehn Jahren.“ Zudem sei der Banken- und Finanzsektor gut reguliert und ausreichend mit Kapital ausgestattet.

Auslandsverschuldung als größtes Risiko

Zwei bis drei Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums seien auf die nach dem fehlgeschlagenen Putsch 2016 getroffenen Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft zurückzuführen. „Als die Wirtschaft schrumpfte, hat die Regierung mit einem Maßnahmenbündel, bestehend aus einer Lockerung der Finanzpolitik, Steuersenkungen bei Konsumgütern, höheren Investitionen und der Aufstockung des staatlichen Kreditgarantiefonds, reagiert“, sagte Grieveson. Das sei im ersten Moment richtig gewesen und habe positive Auswirkungen auf die Beschäftigung gehabt, die zuletzt um fünf Prozent pro Jahr gestiegen sei. Seiner Ansicht nach wurden die Maßnahmen jedoch zu lange fortgesetzt, und die türkische Wirtschaft sei dabei, sich künstlich aufzublähen. Nach den Berechnungen des WIIW ist von allen Ländern der CESEE-Region die Türkei neben Rumänien am meisten gefährdet, zu „überhitzen“.

Das größte Risiko sei die private Auslandsverschuldung, sagte Grieveson. Das Leistungsbilanzdefizit sei von 3,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes 2016 auf 5,5 Prozent im letzten Jahr gestiegen und solle 2018 mindestens dasselbe Niveau erreichen. Da das Leistungsbilanzdefizit in der Türkei fast ausschließlich durch die Aufnahme von Krediten finanziert werde, stelle es ein großes Problem dar - weniger für den stabilen Staatshaushalt als für den Privatsektor.

Auf Lira-Verfall zu spät reagiert

Für die Vergabe von Privatkrediten werde Kapital aus dem Ausland aufgenommen. Diese Kredite zu bedienen, habe sich aufgrund der schwachen Lira für Firmen, die ihren Umsatz in türkischer Währung machen, nun drastisch verteuert, so der Wirtschaftsexperte. Seit Jahresbeginn verlor die Lira rapide an Wert. Auf den Verfall sei zu spät reagiert worden. „Erst im letzten Monat hat die türkische Zentralbank die Zinsen angehoben - dafür gleich dreimal hintereinander“, berichtete er. Infolgedessen sei der Kurs wieder leicht gestiegen.

Keine Besorgnis ruft bei Grieveson hingegen der außenpolitische „Radau“ zwischen der EU und der Türkei hervor. Dieser ist seiner Ansicht nach auf innenpolitische Interessen zurückzuführen. „Bald endet eine Periode zahlreicher Urnengänge. Danach sollte es ruhiger werden“, prognostizierte der Analyst. Die wechselseitige Abhängigkeit sei aufgrund des Flüchtlingsabkommens und der wirtschaftlichen Verflechtungen zu hoch, als dass es zu einem ernsten Zerwürfnis kommen könne.

Für Investoren immer noch attraktiv

„Die EU ist und bleibt der wichtigste Handelspartner für die Türkei“, so der Wirtschaftsexperte. Laut Angaben des WIIW kamen 2016 rund 65 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen (FDI) aus der Union. 2017 gingen 47 Prozent aller türkischen Exporte in die EU-28. Die Türkei habe trotz der Ereignisse der letzten Jahre ihre Attraktivität für Investoren behalten. „Zentrale Faktoren sind die gute geografische Lage, die junge Bevölkerung und das Talent türkischer Händler, auf verschiedenen Märkten zu arbeiten“, so Grieveson.

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