Veränderung liegt in der Luft
Präsident Recep Tayyip Erdogans vermeintlicher Siegeszug bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen droht zu scheitern. Nach Jahren der unangefochtenen Macht steht dem türkischen Präsidenten diesmal eine überraschend starke Opposition gegenüber. Auch der rasante Absturz der Lira trägt dazu bei, dass der im Wahlkampf kraftlos wirkende Staatschef dem kommenden Wahlsonntag mit Bangen entgegenblicken muss.
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Wenn Erdogan am Rednerpult stünde, wirke er „wie ein erschöpfter Spitzenpolitiker, dem nach 16 Jahren an der Macht die Versprechungen ausgegangen sind“. Das schrieb der im Exil in Deutschland lebende Ex-Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, unlängst in einem Kommentar für „Die Zeit“. „Er begeht Fehler über Fehler, schreibt sich Fabriken zu, die er nicht eröffnet hat, vergisst die Namen der Städte, in denen er gerade ist, verstummt, wenn der Teleprompter streikt“, schrieb Dündar.
Am Sonntag finden in der Türkei vorgezogene Präsidenten- und Parlamentswahlen statt. Präsident Erdogan begründete den verfrühten Termin vor zwei Monaten unter anderem mit der prekären Situation in den Nachbarländern Irak und Syrien sowie der Notwendigkeit, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen. Hintergrund des Schrittes dürfte aber die Sorge gewesen sein, dass sich die wirtschaftliche Lage, samt rasantem Wertverlust der Lira, bis zum ursprünglichen Wahltermin im November 2019 noch weiter verschlechtern könnte.

APA/AFP/Adem Altan
Präsident Erdogan wirkte im verfrühten Wahlkampf überraschend kraftlos
„Jeden Tag müde“
„Wenn Erdogan auf die Bühne geht, dann ist er müde. Aber er ist jeden Tag müde. Jeden Tag!“, stellte ein türkischer Fernsehmann gegenüber dem „Standard“ fest. „Er ist über seinen Höhepunkt hinaus. Die Leute spüren das.“ Der Präsident absolvierte mehrere Auftritte täglich - seine Kräfte dürften dafür aber nicht ausgereicht haben.
Sein Wahlkampf wirkte zunehmend energie- und einfallslos, der kürzlich beendete Fastenmonat Ramadan mag dazu beigetragen haben. Immer spulte er dieselben Phrasen ab: Seine Regierung habe Brücken und Flughäfen, Straßen und Krankenhäuser gebaut. Die Opposition dagegen sei ein „Zerstörungsteam“, der eine „osmanische Ohrfeige“ - einst eine berüchtigte Nahkampftaktik des osmanischen Heeres - verpasst gehöre.
„Volkskaffeehäuser“ als Wahlversprechen
Tatsächlich könnte die Opposition Erdogan erstmals in seiner Ära gefährlich werden: Der Kandidat der Kemalistenpartei CHP, Muharrem Ince, begeistert viele mit seiner Rhetorik - und kontert jeden Schritt Erdogans. „Wenn ihr Gratiskuchen essen wollt, wählt Erdogan. Wenn ihr in der Fabrik arbeiten und euer Brot verdienen wollt, dann stimmt für mich“, sagte er unlängst vor Arbeitern in Kastamonu an der Schwarzmeer-Küste, wo die Regierung eine Raffinerie privatisieren wollte. Er bezog sich dabei auf das einzige konkrete Versprechen Erdogans im Wahlkampf: Die Einrichtung von „Volkskaffeehäusern“ mit Gratisverpflegung rund um die Uhr.

AP/CHP Press Service
Nach 16 Jahren Erdogan steht Ince für einen Neuanfang
Erdogans Gegenentwurf im Aufwind
Auch sonst gibt sich Ince als Gegenentwurf zu Erdogan: Er verspricht, ein unparteiischer Präsident zu sein, während dieser sich wieder an die Spitze der von ihm mitbegründeten islamisch-konservativen Regierungspartei AKP hat wählen lassen. Ince hat den inhaftierten Präsidentschaftskandidaten der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, im Gefängnis besucht, den Erdogan einen „Terroristen“ nennt.
Den von Erdogan errichteten Präsidentenpalast in Ankara mit seinen mehr als 1.150 Zimmern möchte Ince nicht zu seinem Amtssitz machen, sondern in eine Bildungsstätte verwandeln. Das Präsidialsystem, dessen Einführung mit den Wahlen abgeschlossen wird, und das vorsieht, dass der Präsident nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef wird, will der Oppositionelle rückgängig machen. Auch den seit dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängten Ausnahmezustand möchte Ince beenden – ein Schritt, den nach langem Hin und Her auch Erdogan am Montag in Aussicht stellte. „So Gott will, werden wir in der neuen Periode den für die Terrorbekämpfung notwendigen Ausnahmezustand aufheben, wenn die Frist vorbei ist", sagte Erdogan. Das wäre nach derzeitigem Stand am 19. Juli um 1.00 Uhr.
Unter den sechs Kandidaten wird Erdogan bei der Präsidentenwahl die meisten Stimmen gewinnen, daran besteht wenig Zweifel. Offen ist aber, ob er in eine Stichwahl muss. Der Gegenkandidat am 8. Juli hieße dann wohl Ince, er könnte auf die Stimmen von Erdogan-Gegnern auch aus anderen Lagern als dem der kemalistischen CHP setzen. Spätestens in der Stichwahl würde Erdogan sich wohl durchsetzen, doch sein Nimbus der Unschlagbarkeit wäre in jedem Fall angekratzt. Schon beim Verfassungsreferendum über das Präsidialsystem im vergangenen Jahr holte er nur eine dünne Mehrheit, die noch dazu hoch umstritten war.

Grafik: ORF.at; Quelle: Wikipedia
Bei der zeitgleichen Parlamentswahl am Sonntag droht der AKP Umfragen zufolge ihre absolute Mehrheit abhanden zu kommen. Auch das wäre für die Opposition ein Erfolg, der die Türkei allerdings lähmen könnte: Erdogans Präsidialsystem ist nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition das Parlament kontrolliert. Der Präsident kann künftig zwar per Dekret regieren, das Parlament kann die Dekrete aber per Gesetz wieder aushebeln – ein politisches Patt wäre die Folge.
„Fallenden Baum sollte man nicht anstoßen“
Der regierungskritische türkische Journalist Gürkan Özturan sieht das Ende von Erdogans Allmacht jedenfalls besiegelt: „In keiner Umfrage hat er genug Unterstützung“, sagte er am Wochenende bei einem Seminar in Wien. „Die Opposition wartet einfach nur ab, weil man einen fallenden Baum nicht anstoßen sollte.“ „Die Zahl der Leute, die genug von Erdogan haben, dürfte eine Grenze überschritten haben“, so Özturan. Viele Anhänger Erdogans seien durch die Wirtschaftskrise und den beispiellosen Verfall der Landeswährung Lira verunsichert. „Sie fragen sich, ob ihnen die AKP noch etwas Gutes bringt.“
Nachdem sie den Türken jahrelang mehr Wohlstand und nationale Größe versprochen habe, bleibe ihr jetzt nur noch eine Taktik: Sie drohe den Menschen damit, dass es ihnen im Fall eines Regierungswechsels viel schlechter gehen werde. Der Leiter des unabhängigen Infokanals Dokuz8news zitierte einen AKP-Lokalpolitiker: „Alle Leute, die bisher Sozialleistungen von uns bekommen haben, werden mit uns untergehen.“ Nach Einschätzung des Journalisten und Politikwissenschaftlers werde sich Erdogan auf diese Weise aber maximal zwei oder drei Jahre halten können.
„Es geht um Leben und Tod“
Sollte die AKP die absolute Mehrheit verfehlen, werde es wohl in sechs Monaten eine Neuwahl geben, glaubt Özturan. Er erwartet für diesen Fall auch eine offene Spaltung der Regierungspartei. Mit Ex-Präsident Abdullah Gül und Ex-Außenminister Ahmet Davutoglu stünden bereits entsprechende Anführer bereit. Freilich sei nicht zu erwarten, dass Erdogan ohne Gewalt weicht: „Er wiederholt immer wieder, dass es um Leben und Tod geht.“ Kein Wunder also, dass die Regierung ihre Ausgaben zuletzt deutlich hinaufgefahren hat: Das Haushaltsdefizit wuchs in den ersten fünf Monaten dieses Jahres um 78 Prozent auf umgerechnet rund 3,7 Milliarden Euro (20,5 Mrd. Lira).
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