„Sie verwandeln Nigeria in einen Friedhof“
Neben der Islamistenmiliz Boko Haram versetzen derzeit Kämpfer muslimischer Fulani-Hirten Nigeria in Angst und Schrecken. Laut dem Global Terrorism Index zählen sie zu den weltweit gefährlichsten Terrorgruppen.
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Vergangene Woche wurden bei Angriffen auf sechs Dörfer im Zentrum Nigerias nach Polizeiangaben mindestens 86 Menschen getötet. Auslöser war laut Medienberichten eine Auseinandersetzung zwischen Bauern der Berom-Volksgruppe und Fulani-Hirten, bei der fünf Hirten getötet wurden. Örtliche Quellen deuteten bei dem Vergeltungsangriff der Fulani auf eine weitaus größere Opferzahl hin. Über 200 Menschen hätten ihr Leben verloren, sagte am Montag Cyril Puppet, ein Mitarbeiter der Regierung in dem Bundesstaat, der dpa.
Nomadische Hirten hätten das Feuer auf die Menschen eröffnet und „Hunderte unserer Leute getötet und verstümmelt“, sagte Puppet. Staatschef Muhammadu Buhari appellierte an die Bevölkerung, gefasst zu bleiben. „Wir werden nicht ruhen, bis alle Mörder und kriminellen Elemente und ihre Sponsoren außer Gefecht gesetzt und zur Rechenschaft gezogen wurden“, twitterte er. Er drückte den betroffenen Gemeinden sein tiefstes Beileid aus.
Bereits im Jänner waren Angehörige des Nomadenvolkes für mehrere Anschläge und den Tod von 170 Menschen verantwortlich. Bei einem Massaker in einer Kirche im Süden des Landes starben im April mindestens 19 Menschen. Anfang Juni attackierten die Viehhirten ein Dorf im Norden Nigerias, zündeten zahlreiche Häuser an und erschossen 23 Menschen von ihren Motorrädern aus.
Blutige Konflikte
Bei den insgesamt 20 Millionen Fulani handelt es sich um eine vor allem in West- und Zentralafrika halbnomadisch lebende Volksgruppe. Ursprünglich bevölkerten die Hirten und ihre Familien die Sahelzone im Norden Nigerias. Die zunehmende Dürre und anhaltende Trockenheit treiben sie mit ihren Viehherden jedoch immer weiter in das ethnisch und religiös gemischte Landesinnere sowie in den überwiegend christlichen Süden.
Seit jeher kommt es bei Zusammentreffen der Fulani-Hirten mit der bäuerlichen Bevölkerung zu blutigen Konflikten. Oftmals sind Landstreitigkeiten um Weideland der Grund für die tödlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kuhhirten der muslimischen Fulani-Volksgruppe und den sesshaften christlichen Landwirten. Vor zwei Jahren hatte die Regierung Nigerias versprochen, für bedürftige Viehzüchter frei zugängliche Weideflächen zu schaffen. Der Plan wurde von den Bauern aber abgelehnt und nicht weiterverfolgt.

APA/AFP/Stefan Heunis
Ein Ranger zeigt, wie Fulani-Hirten Pfeil und Bogen zur Verteidigung einsetzten
Während Anschläge der Islamistenmiliz Boko Haram internationale Aufmerksamkeit erhielten, würden jene der Viehhirten oft nicht untersucht, warnte die Rechtsexpertin Ewelina Ochab bereits 2016 bei einer Konferenz in Wien. Dabei verübten Kämpfer aus den Reihen der Fulani alleine 2016 mehr Anschläge als Boko Haram. Ihre ursprüngliche Waffe, Pfeil und Bogen, haben sie mittlerweile durch eine AK-47 ersetzt. Als der Konflikt zwischen den radikalen Viehhirten und den christlichen Bauern Ende 2017 eskalierte, wurden Zehntausende Menschen in die Flucht getrieben.
„Fulani bald so gefährlich wie Boko Haram“
Die International Crisis Group (ICG) hatte im Herbst davor gewarnt, dass die Auseinandersetzungen für Nigeria möglicherweise so gefährlich werden könnten wie der Aufstand der Islamistengruppe Boko Haram.
Boko Haram
Die Islamistengruppe kämpft im Nordosten des Landes seit 2009 für die Errichtung eines islamischen Gottesstaats. In dem Konflikt wurden bereits mehr als 20.000 Menschen getötet. 2,6 Millionen Menschen flohen vor der Gewalt.
Kirchenvertreter wie Bischof Joseph Bagobiri vom katholischen Hilfswerk Kirche in Not (KIN) sehen vor allem religiöse Motive hinter den Anschlägen. „Der Konflikt hat sich zu einer religiösen Verfolgung entwickelt“, sagte Bagobiri gegenüber KIN.
In vielen Ortschaften würden besonders die von Christen betriebenen Geschäfte sowie Kirchen angegriffen. Die terroristische Bedrohung führt er auf die Zunahme des islamischen Fundamentalismus im Land und auf die Einführung der Scharia in zwölf von 36 nigerianischen Bundesstaaten zurück. Bereits ein Drittel der nigerianischen Bevölkerung lebt nach dem religiösen Regelwerk.
Fulani-Prediger rief 1804 Dschihad aus
Die Hirten sind Nachkommen der Anhänger von Usman dan Fodio, einem Fulani-Prediger, der 1804 einen Dschihad ausrief und das Kalifat von Sokoto gründete – den größten islamischen Staat südlich der Sahara. Kritiker befürchten ein Wiederauferstehen von Usmans Erbe, das vorsieht, Nigeria in einen islamischen Staat zu verwandeln. Indirekt unterstützt werden die Fulani laut „London Review of Books“ zudem durch niemand Geringeren als den nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari - selbst Sohn eines Fulani-Hirten.
Buhari rief 2001 zur vollständigen Umsetzung der Scharia in Nigeria auf und gab bekannt, dass er bereit sei, für den Islam zu sterben. Doch auch die Fulani stehen hinter ihrem Präsidenten und setzen sich stark für seine Wiederwahl ein. So drohte Bello Bodejo, Chef einer einflussreichen Fulani-Kulturvereinigung, kürzlich: „Wir erlauben niemandem, Buharis Platz einzunehmen. Wir sind bereit, ihm zu folgen und für ihn zu kämpfen.“
Bischöfe fordern Präsidentenrücktritt
Nach dem Massaker in der Kirche im April forderten die katholischen Bischöfe des Landes Buhari zum Rücktritt auf. Sie werfen der Regierung und den staatlichen Sicherheitsbehörden fahrlässiges Versagen vor. Die „unmenschliche Terrorgruppe“ habe unschuldige Gläubige getötet und verwandle Teile Nigerias in einen „riesigen Friedhof“, heißt es nach Angaben des vatikanischen Pressediensts Fides in einer Erklärung. Der Präsident habe das Vertrauen der Bürger verloren. Die verzweifelte Bitte um Hilfe und Sicherheit sei von den Behörden nicht beachtet worden, beklagten die Bischöfe Nigerias. Auch die örtlichen Sicherheitskräfte würden „das Schreien und Klagen wehrloser Bürger absichtlich nicht hören“.
Korruption und schlechte Regierungsführung hätten erst den Nährboden für das Erstarken der Fulani-Terroristen gebildet, schreibt die BBC. Amnesty International bezichtigt das nigerianischen Militär bei der Bekämpfung jüngster Stammeskonflikte zusätzlich unverhältnismäßiger Gewalt. In mindestens einem Fall habe die nigerianische Luftwaffe sogar Kampfflugzeuge eingesetzt, um Zusammenstöße zu beenden. Zeugenaussagen zufolge kamen bei dem Konflikt mindestens 86 Menschen ums Leben, 35 davon infolge der Luftangriffe.
Ein solcher Beschuss der Zivilbevölkerung sei „rechtswidrig und entsetzlich“, so Amnesty. In den Dörfern seien durch die Luftangriffe auch zahlreiche Häuser zerstört worden. „Die Regierung muss ihre Strategie in Bezug auf diese tödlichen Zusammenstöße komplett ändern, damit die Krise nicht außer Kontrolle gerät“, sagte Amnesty-Landesdirektor Osai Ojigho. Schon jetzt ist Nigeria nach dem Irak und Afghanistan das am stärksten von Terrorismus betroffene Land der Welt.
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