Entdeckungsreisen für Zeitgenossinnen
Die Sachbücher der Saison greifen die heißen Eisen unserer Zeit auf: Identitätspolitik, Feminismus, Digitalisierung und vieles mehr.
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Warum Trump Präsident wurde
Toni Morrison feiert ihn als neuen James Baldwin, andere sprechen von „der Stimme des schwarzen Amerika“: Die Rede ist von Ta-Nehisi Coates, der mit der Sammlung seiner „Atlantic“-Essays nicht nur in den USA für Furore gesorgt hat. Seine Erklärungsansätze, warum Donald Trump ausgerechnet nach Barack Obama Präsident wurde und warum Letzterer der schwarzen Bevölkerung nicht helfen konnte, sind bemerkenswert, brillant formuliert und voller überraschender historischer Bezüge. (Paula Pfoser, für ORF.at)
Ta-Nehisi Coates: We Were Eight Years in Power. Eine amerikanische Tragödie. Hanser Berlin, 416 Seiten, 25,70 Euro.
Die Precht-Show zur Digitalisierung
Wenn eine Debatte in der Öffentlichkeit aufschlägt, ist sie eigentlich nicht mehr neu. So wird unter Experten und interessierten Laien auch seit Jahren - eigentlich seit Jahrzehnten - über die möglichen Folgen einer durchdigitalisierten Gesellschaft diskutiert. Der deutsche Germanist Richard David Precht ist ein Meister darin, solche Debatten zusammenzufassen und einem breiten Publikum näherzubringen. Viel Utopie (weniger Erwerbsarbeit, mehr Freiheit) und viel Dystopie (totale Überwachung) steckt da drin, plus ein gehöriger Schuss Polemik. (Simon Hadler, ORF.at)
Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker. Eine Utopie für die Digitale Gesellschaft. Goldmann, 288 Seiten, 20,60 Euro.

ORF.at/Lukas Krummholz
Pluralismus in der Begegnungszone
Die pluralistische Gesellschaft ist Fakt, die Frage ist einzig, wie wir damit umgehen – und wie wir damit umgehen könnten, so die österreichische Philosophin Isolde Charim in „Ich und die Anderen“. Das Buch ist die Gegenwartsdiagnose der Stunde: Charim analysiert hier die Zersetzung und Vervielfältigung von Identitätsentwürfen in unserer Gesellschaft und kann zu Vieldiskutiertem wie Populismus und Religion ebenso Kluges und noch dazu vergnüglich zu Lesendes beitragen wie zum Phänomen Andreas Gabalier – ohne sich zu allzu einfachen Antworten hinreißen zu lassen. (Paula Pfoser, für ORF.at)
Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Zsolnay, 224 Seiten, 22 Euro.
Dreimal 1968
Drei Klärungsversuche rund um den Geburtstag des Revolutionsjahres: Generationenforscher Heinz Bude zeichnet in schönen essayistischen Porträts die 68er als Kriegskindergeneration zwischen Melancholie und Aufbruchsstimmung. Wolfgang Kraushaars Überblicksband beleuchtet nüchtern, aber empathisch die „blinde Flecken“ der 68er wie etwa den Antisemitismus. Und – last but not least – ist Christina von Hodenberg zu empfehlen, die mit einer Quellenstudie die wohl spannendste Neudeutung von 1968 zu bieten hat: Frauen machten die eigentliche Revolution, Generationenkonflikt gab’s auch keinen. (Paula Pfoser, für ORF.at)
Heinz Bude: Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968. Hanser, 128 Seiten, 17,50 Euro.
Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung. Klett-Cotta, 528 Seiten, 25,80 Euro.
Christina von Hodenberg: Das andere Achtundsechzig. C. H. Beck, 250 Seiten, 24,95 Euro.
In der Grauzone des Ukraine-Krieges
So nah wie nur irgend möglich sind die Journalistin Jutta Sommerbauer und der Fotograf Florian Rainer dem Krieg im Osten der Ukraine gerückt. Ihre Reise entlang der 450 Kilometer langen Gefechtslinie haben sie im Bild-Text-Band "Grauzone“ dokumentiert – benannt nach dem schmalen Streifen zwischen den Gefechtsstellungen, in der Menschen trotz Schrecken, Chaos und ständiger Bedrohung in manchen Momenten so etwas wie Alltag erleben: „Kinder gehen in die Schule, Frauen zur Maniküre, Bauern bestellen das Feld, Paare verlieben und entlieben sich“. Spannende Reportagen und eindrucksvolle Fotos lassen erahnen, wie zermürbend das Leben inmitten eines festgefahrenen Konflikts ist. (Romana Beer, für ORF.at)
Florian Rainer, Jutta Sommerbauer: Grauzone. Eine Reise zwischen den Fronten im Donbass. Bahoe books, 224 Seiten, 24 Euro.
Rassismusanalysen der Nobelpreisträgerin
Die Schwarze Geschichte der USA, die Zähigkeit des Rassismus und die Möglichkeiten der Literatur: Die Grande Dame der schwarzen Literatur greift in ihrem neuen Essayband ihre Lebensthemen wieder auf und präsentiert sich einmal mehr als das bitter benötigte „Gewissen“ Amerikas. Die Stärke des Buchs entsteht durch die Montage verschiedener Textpassagen – von Tagebuchaufzeichnungen eines Sklavenhalters bis hin zu Morrisons eigenen Werken – und ihren klaren Worten, mit denen sie auch diesmal die Illusion weißer Überlegenheit zu demontieren weiß. (Paula Pfoser, für ORF.at)
Toni Morrison: Die Herkunft der anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur. Rowohlt, 112 Seiten, 16,50 Euro.
Frauen zum Schweigen bringen
Öffentliche Demütigung, restriktive Gesetze oder einfach rohe Gewalt: Die Menschheit hat sich schon viel ausgedacht, um Frauen zum Schweigen zu bringen. In „Frauen & Macht“ beschreibt die populäre britische Althistorikerin und Cambridge-Professorin Mary Beard, wie Gesellschaften seit der Antike Frauen in ihre Schranken und aus der Arena des öffentlichen Lebens weisen. Besonderes Augenmerk legt sie auf den Themenbereich weibliche Stimme („schrill“) und weiblicher Humor („nicht vorhanden“). Letzterer kommt trotz des harten Themas bei Beard zum Glück nicht zu knapp. (Johanna Grillmayer, ORF.at)
Mary Beard: Frauen und Macht. Ein Manifest. S. Fischer, 112 Seiten, 12,40 Euro.

ORF.at/Lukas Krummholz
Pionierin im Übergang
Frauenrechte und völkischer Nationalismus – das klingt wie zwei unvereinbare Gegensätze. Doch die 1930 verstorbene Journalistin und Vortragsreisende Käthe Schirmacher war für beides eine wichtige Vorkämpferin. Eine neue Biografie Schirmachers zeichnet 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts und im „Anschluss“-Gedenkjahr nach, wie das möglich war. „Nebenbei“ entsteht ein spannendes, plastisches Bild von einer vielfach im Übergang befindlichen europäischen Gesellschaft. Ein klärender Blick in die Vergangenheit aus einer selbst oftmals verwirrend scheinenden Gegenwart. (Guido Tiefenthaler, ORF.at)
Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich, Corinna Oesch: Käthe Schirmacher. Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik. Böhlau, 596 Seiten, 57 Euro.
Eine Kopfreise mit „Indiana Jones“
Der amerikanische Archäologe und Historiker Eric H. Cline begibt sich in seinem Buch „Versunkene Welten und wie man sie findet“ auf die Spuren von „Indiana Jones“ und der Archäologiegeschichte quer durch die Jahrhunderte. Teils spielte der Zufall eine Rolle, doch vor allem kamen die meisten Entdecker und Archäologen mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit und einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein zu ihren aufsehenerregenden Funden, sei es das Grabmal des Tutanchamun, die Überreste Trojas oder die Inka-Metropole Machu Picchu - eine Kopfreise zu verschiedenen Völkern und Kulturen. (Peter Bauer, ORF.at)
Eric H. Cline: Versunkene Welten und wie man sie findet, Deutsche Verlags-Anstalt, 528 Seiten, 28,80 Euro.
Koran und Bibel: Neun Vergleiche
Die Romanautorin und Religionswissenschaftlerin Sibylle Lewitscharoff und der Journalist Najem Wali haben sich in „Abraham trifft Ibrahim“ auf „Streifzüge durch Bibel und Koran“ gemacht. Sie vergleichen in je zwei Texten neun Geschichten, die in beiden heiligen Büchern vorkommen. So erfährt man etwa, dass die Gottesmutter Maria im Koran Maryam heißt und ihr Kind Isa (Jesus) unter einem Dattelbaum zur Welt bringt – während der Teufel ein Dschinn ist und sogar Kinder hat. Neben den alten Geschichten werden auch moderne Themen berührt. (Johanna Grillmayer, ORF.at)
Sibylle Lewitscharoff und Najem Wali: Abraham und Ibrahim. Streifzüge durch Bibel und Koran. Suhrkamp, 309 Seiten, 24,70 Euro.
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