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Von der Basis zur Demokratie

Wie soll Europa in Zukunft aussehen? Antworten auf diese Frage gibt es derzeit einige. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron plädiert beispielsweise für einen gemeinsamen Haushalt für die Euro-Zone, Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) pocht auf mehr Effektivität im Grenzschutz. Der italienische Philosoph Antonio Negri lehnt ein Europa, das von oben diktiert wird, ab. Für ihn muss Europa nämlich autonom von unten verändert werden.

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„Wenn wir ein demokratisches Europa wollen, müssen wir dafür kämpfen“, sagt der renommierte Wissenschaftler im Gespräch mit ORF.at. Mit „wir“ meint Negri soziale Bewegungen, die autonom handeln und frei sind von Partei- und Gewerkschaftsinteressen. Nur einer „von einer demokratischen Radikalität geprägten Bewegung“ sei es nämlich möglich, ein Europa wiederaufzubauen, das sich vom anhaltenden Neoliberalismus emanzipiert.

Antonio Negri

ORF.at/Jürgen Klatzer

Antonio Negri

Für den Italiener sind rebellische Städte wie Barcelona und Neapel gute Beispiele, wie soziale Bewegungen funktionieren könnten. Allerdings sei in der jüngeren Vergangenheit allen voran die Occupy-Bewegung prägend gewesen. Diese sei von der Basis organisiert worden und habe sich ständig neu formiert. „Eine starre Führung an der Spitze bringt unweigerlich eine Homogenisierung der Mitglieder mit sich. Am Ende tragen alle dasselbe oder sehen sich sogar ähnlich“, erklärt Negri. Entscheidend sei aber, dass sich eine soziale Bewegung in ihren Differenzen ausdrücke.

Das Netzwerk des Proletariats

Der heute 84 Jahre alte Negri weiß, wovon er spricht. Kaum ein europäischer Intellektueller hat in der Vergangenheit so viel Zuspruch und Ablehnung in sich vereint, wie der Philosoph. In den 60er und 70er Jahren war er der Kopf der politischen Gruppe Potere Operaio und unterstützte die autonomen Streikbewegungen in den Fabriken im Norden Italiens - bekannt sind die „wilden Streiks“ im Fiat-Konzern während des Heißen Herbstes 1969. Schlachten mit der Polizei wurden auf der Straße ausgetragen, Fabriken wurden besetzt; die Arbeitsniederlegung kostete Fiat Zehntausende Autos, die nicht produziert wurden.

Demo in Rom, 1969

AP

Im Herbst 1969 kam es in Italien zu Streiks und Demonstrationen gegen die Bedingungen in der Fabriksarbeit

Wegen seiner Beteiligung an der teils radikalen Autonomia-Bewegung und seiner Kontakte zu den Roten Brigaden wurde Negri, der 1933 in Venetien geboren wurde und an der Universität Padua lehrte, mehrfach verhaftet. Nach vier Jahren in Untersuchungshaft floh er 1983 nach Frankreich, wo er 14 Jahre lang lebte. In Abwesenheit wurde der zum Staatsfeind ernannte Negri wegen „Bandenbildung“ zu 30 Jahren Haft verurteilt. Nach seiner freiwilligen Rückkehr nach Italien 1997 verbüßte er den Rest seiner Strafe im gelockerten Hausarrest.

Dass der postmarxistische Theoretiker auch heute noch ganze Säle füllen kann, bewies er Anfang Juni in Wien. Auf Einladung der Akademie der bildenden Künste dozierte er vor Hunderten Zuhörern und Zuhörerinnen über eine radikale Demokratisierung Europas. „Um Europa aufzubauen, muss man Europa abreißen“, sagte Negri und konkretisierte im ORF.at-Gespräch, dass die EU in einer „neoliberalen Maschinerie“ gefangen sei, die den ganzen Kontinent verwüste und Nationalismen in den einzelnen Ländern bestärke.

Krisen in Europa

Überhaupt stecke Europa derzeit in mehreren Krisen, so die Ikone der autonomen Arbeiterbewegung. „Stichwort Europäische Zentralbank oder Europäische Kommission, die schon lange mit der Peripherie im Süden bricht“, sagt Negri, der sich in den Krisenjahren auf die Seite der südeuropäischen EU-Staaten wie Griechenland stellte. 2015 schrieb er, dass die EZB von Bewegungen gestürmt werden müsse. In Anlehnung an die Französische Revolution war von einem neuen Sturm auf die Bastille die Rede.

Operaismus

Der Operaismus leitet sich aus dem Begriff Operaio (Arbeiter) ab, ist eine neomarxistische Strömung und soziale Bewegung, die im Italien der 60er Jahre entstanden ist. Im Kern geht es um die Autonomie der Arbeiter.

Nur so könnten Europa und der Euro demokratisiert werden, sagt Negri. Wichtig sei aber, wie sich die EU in Zukunft aufstellen werde und wie sie sich gegenüber den Nationalstaaten präsentiere. Der Philosoph, der mit seinen theorielastigen Büchern „Empire“ (2000) und „Multitude“ (2004) über die italienischen Grenzen hinaus Bekanntheit erlangte und der postmodernen Protestgeneration neue Bibeln lieferte, plädiert für einen europäischen Föderalismus, wodurch das EU-Parlament als Volksvertretung mehr Gewicht bekommen sollte.

Allerdings, so der Philosoph, sei die Ausgangslage wegen einer „Konterrevolution“ mancher Nationalstaaten für so ein Europa derzeit nicht gerade ideal. Unmöglich sei es aber nicht, sagt Negri, der aktuell die 2016 gegründete Initiative Bewegung Demokratie in Europa 2025 (DiEM25) unterstützt. Die linke Plattform des ehemaligen höchst umstrittenen Finanzministers Griechenlands, Gianis Varoufakis, möchte im Mai 2019 bei der Europawahl antreten.

Opposition in Italien existiert nicht

Angesprochen auf die neue rechtspopulistische Regierung in Italien, die von Experten als Gefahr für Europa gesehen wird, betont Negri: „Natürlich wird es zwischen der EU und Italien weiterhin große Kämpfe geben, allerdings auf derselben Ebene wie schon in den Jahren zuvor.“ Die Beziehung werde sich zumindest bis zur Europawahl 2019 nicht entscheidend ändern, vermutet er.

Buchhinweise

  • Antonio Negri, Michael Hardt: Empire. Harvard University Press, 461 Seiten, 25 Euro.
  • Antonio Negri, Michael Hardt: Multitude. Penguin Books, 432 Seiten, 30 Euro.
  • Antonio Negri, Michael Hardt: Assembly. Oxford University Press, 411 Seiten, 35 Euro.

Problematischer sei derzeit die politische Situation in Italien. Die Demokratische Partei (PD) habe sich „pulverisiert“, und die Forza Italia sei „ein veraltetes Auto, das nicht mehr anspringt. Eine Opposition existiert einfach nicht“, so Negri weiter. Ob die Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega Bestand haben werde, will der marxistische Philosoph heute noch nicht prognostizieren.

Allerdings sei die derzeitige politische Situation sehr volatil, und es sei wahrscheinlicher, so Negri, dass es in den nächsten Wochen zu einem Bruch zwischen Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung kommt, als dass die anderen Parteien ihr Comeback feiern. Die italienische Regierung vereine nämlich einige Widersprüche, „die ihr mehr Problemen einbringen, als sie am Ende lösen werden können“.

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