Blaupausen für ein neues Europa
Der italienische Philosoph und Autor Antonio Negri gilt als einer der führenden Intellektuellen der Gegenwart. Seit den 60er Jahren beteiligte er sich an Demonstrationen und politischen Revolten, wofür er mehrfach inhaftiert wurde. Im Interview mit ORF.at spricht Negri über die derzeitige Situation in Italien und Europa sowie den autonomen Widerstand.
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ORF.at: Herr Negri, beginnen wir zunächst mit Ihrem Heimatland Italien. Dort gibt es nach wochenlanger Ungewissheit eine Regierung aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega. Wie bewerten Sie die Koalition?
Antonio Negri: Diese Regierung ist extrem instabil. Sie hat eine hohe Ambiguität, sie ist mehrdeutig, wenn man das so sagen kann. Die Ziele sind nicht ganz klar, die Widersprüche dafür umso größer. Das wird sowohl der Lega als auch der Fünf-Sterne-Bewegung mehr Probleme einbringen, als sie am Ende lösen werden können.

APA/AFP/Alberto Pizzoli
Luigi di Maio (Fünf-Sterne-Bewegung) und Matteo Salvini (Lega) bilden die neue Regierung in Italien
ORF.at: Was genau meinen Sie mit der Mehrdeutigkeit?
Negri: Schauen wir uns die Regierungspartner genauer an: Auf der einen Seite die Lega, die über ein administratives Personal verfügt, vor allem im Norden Italiens, den sie seit Jahrzehnten regiert. Andererseits gibt es noch Luigi Di Maio und seine Fünf-Sterne-Bewegung, die diese Struktur nicht in diesem Ausmaß vorweisen kann. Ich glaube, dass Di Maio von der Lega getrieben sein wird, was wohl zu Unstimmigkeiten innerhalb der Regierung führen wird. Sie werden sehr oft mit sich selbst beschäftigt sein, anstatt sich um Italien zu kümmern.
ORF.at: Im Koalitionsübereinkommen lautet der erste Satz: „Wir wollen das Vertrauen in die Demokratie und in die Institutionen des Staates wiederherstellen.“
Negri: Na ja, wie sagt man dazu? Rhetorische Phrase? Ja, es ist nicht mehr und nicht weniger als eine rhetorische Phrase. Das größte Problem ist aber, dass es niemanden mehr gibt, der die Regierung auch an solchen, wenn auch sinnlosen Phrasen, messen kann. Die politische Lage, in der wir aktuell stecken, ist entsetzlich. Das linke Spektrum, die Demokratische Partei (PD) hat sich pulverisiert, die Partei von Silvio Berlusconi, Forza Italia, ist ein veraltetes Auto, das nicht mehr anspringt. Eine Opposition existiert einfach nicht.
ORF.at: Viele Experten und Expertinnen gehen davon aus, dass die rechtspopulistische Regierung die EU spalten könnte. Vertreten Sie auch diese Meinung?
Negri: Sagen wir es so: Es ist wahrscheinlicher, dass es in den nächsten Wochen zu einem Bruch zwischen Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung kommt, als dass die anderen Parteien ihr Comeback feiern. Der italienische Theoretiker Antonio Gramsci (1891 bis 1937) sprach von der „organischen Krise“. Das Alte stirbt, und das Neue kann nicht geboren werden. Natürlich wird es zwischen der EU und Italien weiterhin große Kämpfe geben, allerdings auf derselben Ebene wie schon in den Jahren zuvor.
ORF.at: Aber es scheint, als sei das Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und der EU konfliktreicher als sonst.
Negri: Die gegenwärtige Situation in Italien, aber nicht nur die in Italien, ist sehr volatil. Es kann mal so oder so sein. Ich würde mich hier nicht pauschal festlegen wollen. Europa kämpft mit vielen Krisen. Die politischen Probleme in Österreich sind nicht dieselben, wie sie in Ungarn oder Polen vorherrschen. Italien ist nicht Deutschland, und Deutschland nicht Frankreich. Es gibt eine Bandbreite an Herausforderungen, die Europa in die Enge treiben. Aber, und das ist wichtig, alles hängt davon ab, wie sich Europa in Zukunft aufstellen wird und wie es sich gegenüber den Nationalstaaten präsentiert.
ORF.at: Sie gehören zu den schärfsten Kritikern der EU. Sie sagen zum Beispiel, dass man Europa besiegen müsse, um es wiederaufzubauen. Ist das nicht ein radikaler Gedanke?
Negri: Was besiegt werden muss, ist nicht Europa, sondern der Neoliberalismus, der sich durch die EU-Institutionen in Europa breitmacht. Stichwort Europäische Zentralbank und Europäische Kommission, die schon lange mit der Peripherie im Süden brechen. Auch der Schengen-Raum befindet sich in einer Krise. Warum werden der freie Warenverkehr und die Ausbeutung der Arbeitnehmer akzeptiert, Migranten aber abgelehnt? Europa ist in einer neoliberalen Maschinerie gefangen, die den ganzen Kontinent verwüstet und Nationalismen in den einzelnen Ländern schürt. Ist das das demokratische Europa, das wir uns wünschen?
ORF.at: Wie würde denn Ihr Wunscheuropa aussehen?
Negri: Eine Neugestaltung des europäischen Horizonts bedeutet, laut zu werden und für die Wiederaneignung des Wohlstands zu kämpfen. Europa muss sich emanzipieren und für die Arbeiter gebaut werden. Es muss ein Europa sein, das föderalistisch ist, die nationalstaatliche Identität aber hinter die europäische stellt. Bevölkerungsgruppen sollten sich in einem gemeinsamen Rahmen politisch und kulturell autonom entfalten können. In meinen Gedanken ist das aber nur der erste Schritt, der zweite wäre der Weltbürger.

Akademie der bildenden Künste Wien, Institut für Kunst und Architektur/Christina Ehrmann
Negri war auf Einladung der Akademie der bildenden Künste in Wien, wo er über die Risiken Europas sprach
ORF.at: Angesichts der Tatsache, dass in vielen europäischen Staaten heute vermehrt Parteien in Regierungen sitzen, die die EU zurückdrängen wollen, ist ein Europa, das Ihnen vorschwebt, derzeit wohl schwer vorstellbar.
Negri: Die Ausgangslage ist nicht ideal, das stimmt. Aber unmöglich? Warum? Wenn wir ein demokratisches Europa wollen, müssen wir dafür kämpfen. Und nur eine von einer demokratischen Radikalität geprägte Bewegung kann ein Europa wiederaufbauen. Diese Widerstände müssen allerdings von unten kommen, sie dürfen nicht von oben diktiert werden. Sie müssen autonom sein wie die rebellischen Städte wie Barcelona und Neapel. Außerdem brauchen wir neue Methoden des Widerstandes. Dabei kann die Occupy-Bewegung mit ihren innovativen Protestcamps, der internationalen Vernetzung und den karnevalesken Widerstandsformen helfen.
ORF.at: Sie gelten als Vordenker der autonomen Arbeiterbewegung Italiens der 60er und 70er Jahre. Könnten Gewerkschaften diese Bewegungen zu einem neuen Europa anführen?
Negri: Gewerkschaften tun sich mit Umbrüchen extrem schwer. Das war schon in den 60er Jahren in Italien der Fall. Intellektuelle kämpften gemeinsam mit Industriearbeitern gegen die Fabrikarbeit, indem wir wilde Streiks durchführten. Diese Autonomia-Bewegung lehnte eine Bevormundung durch die Gewerkschaft ab. Grundsätzlich bin ich ja für diese autonome Bewegung, die führungslos ist, sich ständig bewegt und neu formiert.
ORF.at: Was spricht gegen eine Führungspersönlichkeit an der Spitze einer Bewegung?
Negri: Eine starre Führung bringt unweigerlich eine Homogenisierung der Mitglieder mit sich. Am Ende tragen alle dasselbe oder sehen sich sogar ähnlich. Für mich ist eine soziale Bewegung eine Menge voller Singularitäten in ihren Differenzen.
ORF.at: Wir haben in den letzten Jahren aber einige führungslose Bewegungen gesehen, von denen man heute wenig bis gar nichts mehr hört.
Negri: Viele sind vielleicht von der Bildfläche verschwunden, vom Radar der Medien, aber sie alle kommen wieder. Da bin ich mir ganz sicher. Sie müssen wissen, dass sich soziale Bewegungen nämlich nicht linear verhalten, nicht einfach anfangen und plötzlich wieder enden. Sie agieren zirkulär. Manchmal bestechen sie mit vollster Präsenz, manchmal arbeiten sie im Hintergrund. Ich persönlich bin absolut davon überzeugt, dass Bewegungen von unten, wie etwa Occupy, wiederkommen werden.
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Das Interview führte Jürgen Klatzer, ORF.at