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Brooklyn könnte Lagos sein

Als der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole eines Morgens vor sieben Jahren erwachte, war er plötzlich auf einem Auge erblindet. Zu seinem Glück war der Defekt nur vorübergehend: „Danach war das Fotografieren anders. Das Sehen war anders“, schreibt Cole in „Blinder Fleck“. Das Reisebuch, das Fotografie und Text kombiniert, macht deutlich: Genaues Hinschauen hält viele Überraschungen bereit.

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Dabei ist das, was man sieht, eigentlich gar nicht spektakulär. Die Fotografien stammen zwar aus aller Welt, aus Auckland und Baalbek, Brazzaville und Hadath El Jebbeh, aus Lagos, Queens, Sao Paulo, Selma, Sasabe, Tripoli, Wannsee oder Ypsilanti. Mehr als 30 Länder auf allen Kontinenten hat Cole für dieses Buch bereist – wer sich deswegen aber Exotik, klassische Schönheit oder Motive erwartet, die die Tourismusbehörden zertifizieren würden, der wird von „Blinder Fleck“ enttäuscht sein.

Teju Cole Blinder Fleck Brienzersee Juni 2014

Teju Cole/aus dem besprochenen Band

Brienzersee/Schweiz: „Was vor mir lag, sah aus wie der Klang des Alphorns zu Beginn des letzten Satzes der ersten Sinfonie von Brahms. Das war er, das war der Sound, den ich sah“

Brooklyn könnte hier Lagos und Ubud auch Zürich sein – denn der globetrottende Autor interessiert sich für das, was die Orte miteinander verbindet, für die, wie er schreibt, „Schwingungen“ zwischen ihnen. Fündig wird er dabei im Alltäglichen und Banalen – in den Vorhängen, Landschaftsausschnitten, plastikverkleideten Fassaden und Garageneinfahrten dieser Welt, die Cole fotografisch eingefangen hat.

Neue Generation von US-Literaten aus Afrika

Das Außergewöhnliche und Eindrückliche, es kommt weniger von den Fotos selbst, die, wie die Autorin Siri Hustvedt im Vorwort schreibt, auch keine „zur Kunst stilisierten Bilder“ sein wollen, sondern von dazugehörigen lyrischen Essays – also von dem, was Cole aus den Bildern herausholt, wie er sie assoziativ erschließt und ihren Raum weitet.

Bereits mit „Open City“ hat Cole bewiesen, wie gut er das Wagnis der Assoziation beherrscht: Sein Debüt, das von einem durch New York flanierenden afroamerikanischen Psychiater erzählte, der immer tiefer in die hybride Gegenwart der Großstadt dringt, katapultierte ihn schlagartig in die Aufmerksamkeit des internationalen Literaturbetriebs.

Teju Cole Blinder Fleck Brienzersee Juni 2014

Hanser Berlin

Buchhinweis

Teju Cole: Blinder Fleck. Hanser Berlin, ca. 150 Fotografien und Texte, 352 Seiten, 39,10 Euro.

Ab 8. Juni sind Bilder dieses Projekts in einer Ausstellung im Strauhof in Zürich zu sehen. strauhof.ch

Der studierte Kunsthistoriker, der auch als Fotokritiker beim „New York Times Magazine“ arbeitet, zählt inzwischen zu den wichtigsten intellektuellen Stimmen Amerikas – und neben Chimamanda Adichie und Chigozie Obioma zu eine neuen aus Afrika stammenden Generation von US-Literaten.

Das japanische Frühjahr

In „Blinder Fleck“ stellt er nun die universelle Kraft menschlicher Erfahrung in den Mittelpunkt, die, wie er sagt, „subterranen Konturen der Wahrnehmung“, die er um die Querverbindungen zur Kunst, Religion und Literatur zu ergänzen weiß. Was man sich genau darunter vorstellen kann?

Da ist zum Beispiel eine Fotografie, die eine frühlingshaft knospende Hecke und einen Schotterweg zeigt, auf den ein Baum einen Schatten wirft. Cole notierte dazu: „Selbst in Amerika ist das Frühjahr japanisch.“ Ein merkwürdiger Satz? Nein, denn worauf er anspielt, ist das Motiv des Zweiges in der japanischen Kunst, an das der Baumschatten erinnert, der sich der noch schwachen Sonne entgegenstreckt. „Es sind nicht nur die Blätter, die wachsen. Die Schatten wachsen auch. Alles wächst.“

Gescheitertes Selfie mit Lady Di

Oder, ein anderes Beispiel: Ein Foto zeigt einen lichtdurchfluteten Vorhang in einem Nürnberger Hotel – der Ausgangspunkt für Notizen zu den Draperiestudien von Albrecht Dürer, der nur wenige Meter von dem Hotel entfernt sein Haus hatte: „Tuchfalten sind Stoff, der über sich selbst nachdenkt. Unter seinem eigenen Druck, durch Schub oder Zug wird Stoff zur Topografie. Geknittert, plissiert, gerafft, gekniffen, fallend, wulstig, verdrillt ergibt Stoff eine regelhafte Unregelmäßigkeit, die einer Wasserfläche gleicht, Luftströmen, Gott in sichtbarer Form.“

Teju Cole Blinder Fleck Capri June 2015

Teju Cole/aus dem besprochenen Band

Capri: „An dem Tag, an dem ich das Fenster meines Zimmers öffnete und eine schimmernde Mittelmeerflotte sah, dachte ich an das, was Edna O’Brien zu uns im Publikum sagte: ‚Wir kennen diese herrlichen Gewässer, die den Tod in sich tragen‘“

Aus dem Zusammenhang gerissen klingen Coles lyrische Essays vielleicht ein bisschen schwülstig, im Buch ist das aber durchaus stimmig. Voller Referenzen und voller kunstbeflissener, mythologischer Anspielungen sind diese Texte, zugleich aber – ganz wichtig – nicht selbstverliebt und mitunter ironisch: Auch ein Traum von einem gescheiterten Selfie mit Lady Diana findet hier seinen Platz.

Poesie, gepaart mit brodelnder Empörung

„An meinen Arbeiten interessieren mich allein die poetischen Möglichkeiten“, schreibt Cole einmal im Buch. Man täuscht sich aber, wenn man vermutet, dass er allein der schöngeistige, westlich gebildete, coole Intellektuelle ist: Denn unter den „tektonischen Platten“ seiner Texte brodelt die Empörung über den tödlichen Rassismus, über den Hass und die Diskriminierung – von der blutigen Geschichte der US-amerikanischen Rassentrennung über den Nationalsozialismus, den Kämpfen indigener Völker um Landrechte bis hin zu den Hexenverbrennungen in der Schweiz.

Teju Cole Autorenfoto

Martin Lengemann

Cole, geboren 1975, wuchs in Lagos auf und lebt heute als gefeierter Autor, Kunstkritiker und Fotograf in Brooklyn

„Hier hat man früher Frauen verbrannt. In diesen so friedlich scheinenden Kantonen wurden Frauen, die man der Teufelsbuhlschaft bezichtigte, in unvorstellbar grausamer Weise hingerichtet“, schreibt Cole zu einer Fotografie, die einen Bergausschnitt hinter einer Fensterscheibe zeigt. „Heute ist die Landschaft besiegelte Sache, wie der Ruf eines Menschen. Das Auge liest und ordnet die gefalteten Berge. Über allen Gipfeln ist Ruh.“

Teju Cole Blinder Fleck Chicago April 2015

Teju Cole/aus dem besprochenen Band

Chicago: „Auf manchen Bildern können wir die Anwesenheit einer Figur feststellen, ohne Zugeständnis des Gesichts aber nicht, was sie denkt. Was sich abwendet, enthält sich“

Diese trügerische Ruhe als solche zu entlarven, das hat sich der „Wanderphilosoph“ Cole hier zur Aufgabe gemacht. Mit „Blinder Fleck“ legt er ein Reisebuch vor, das dazu einlädt, unsere blinden Flecken nicht einfach im Unbewussten zu lassen, vor allem aber, genau hinzuschauen – ob mit schönen, überraschenden oder auch schmerzhaften Erkenntnissen.

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