Themenüberblick

Tür an Tür mit dem Tod

Gabriel Byrne und Toni Colette spielen in „Hereditary - Das Vermächtnis“ ein Paar, das Tür an Tür mit dem Tod wohnt: Zuerst stirbt die Großmutter, dann ein weiteres Familienmitglied - doch die Zimmer der Verstorbenen wirken seltsam belebt. Immer stärker lädt sich die Atmosphäre des Hauses mit unverarbeiteten Vorfällen aus der Vergangenheit auf - bis diese in ein groteskes Inferno münden.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Ein kleines Zungenschnalzen: „Plo-op“. Nicht mehr. In „Hereditary“ reicht es, das Herz rasen zu lassen. „Hereditary“ habe ihn in einen zweistündigen Schockzustand versetzt, seine Kopfhaut prickeln lassen und seinen Schluckauf für immer geheilt, schreibt der Kritiker des britischen „Guardian“, und fährt fort: „Zum ersten Mal habe ich in einer Pressevorführung jemanden laut ‚Fu-uck!‘ schreien hören. In zwei Silben. Die erste in Panik. Die zweite aus Scham, weil sich dieser Kritiker vor seinen Kollegen blamiert hatte.“

Filmszene aus „Hereditary“

Einhorn Film

Milly Shapiro spielt die in sich gekehrte Tochter Charlie: Wie ferngesteuert geht sie ihrer Wege

100 Prozent „fresh“ auf Rotten Tomatoes

Kritiker, die im Kino schreien. Das gibt es selten. Und die Briten sind nicht die einzigen, die sich bei „Hereditary“ fürchten. Auf dem amerikanischen Onlineportal Rotten Tomatoes, das Filmkritiken als „fresh“ (frisch) oder „rotten“ (faulig) bewertet, je nachdem, ob sie positiv oder negativ ausfallen, galt „Hereditary“ lange Zeit als „100 % fresh“, das heißt: Alle Kritiker mochten den Film. Auch das kommt kaum vor: ein Film, der allen Angst macht.

Offensichtlich hat Regisseur Ari Aster das Publikum bei seinen tiefsten Ängsten gepackt. Und das Schöne ist, dass der 37-Jährige in seinem Kinodebüt auf ironische Referenzen verzichtet, wie sie in Horrorfilmen heute gang und gäbe sind, sondern einfach nur erzählt. Ganz schlicht. So, als hätte es das noch nie gegeben: ein Haus, eine Familie, ein dunkles Geheimnis.

Das Mädchen und die tote Taube

Das Haus steht in einem Waldstück, hat liebevoll gewachste Dielenböden und Fenster aus Buntglas. Seitlich haben die Eltern, Steve (Gabriel Byrne) und seine Frau, die Architekturmodellbauerin Annie (Toni Colette), für die Kinder Peter (Alex Wolff) und Charlie (Milly Shapiro) ein Baumhaus gebaut. Doch genutzt wird es nur von der 13-jährigen Charlie, die an einem seltenen Gendefekt leidet, eigenwillig aussieht, selten spricht, dafür aber unvermutet mit der Zunge schnalzt.

Filmszene aus „Hereditary“

Einhorn Film

Tony Colette bleibt als Mutter nichts als pure Verzweiflung angesichts ihrer Machtlosigkeit im eigenen Haus

Charlie schläft lieber im Baumhaus als in ihrem Bett, obwohl es draußen bitterkalt ist. Und in diesem grob gezimmerten Miniaturhaus hebt sie auch ihre Schätze auf – darunter einen Taubenkopf, den sie dem Tier eigenhändig mit der Schere abgeschnitten hat.

Horrorkabinette im Miniaturmaßstab

Das Familienhaus selbst steht noch unter dem Eindruck der toten Großmutter, die lange Jahre an Demenz litt, und mit deren Begräbnis der Film beginnt. Die alte Dame muss eine herrische Frau gewesen sein, die versuchte, die eigene Tochter, den Schwiegersohn und die Enkel zu manipulieren.

Was genau vorfiel, kann Annie, die Tochter, nicht in Worte fassen. Doch als Modellbauerin baut sie die traumatischen Szenen maßstabsgetreu nach. In ihren Mini- Horrorkabinetten sieht man, wie ihre Mutter versuchte, ihr ein Baby wegzunehmen, um es selbst zu säugen - und andere beunruhigende Dinge mehr.

Filmszene aus „Hereditary“

Einhorn Film

Die komplette Familie: Colette und Gabriel Byrne als Eltern, Wolff und Milly Shapiro als Kinder

Omas okkulte Vergangenheit

Düsteres lässt auch die Hinterlassenschaft der Großmutter ahnen, die in Pappkartons im Wohnzimmer lagert: Bücher über okkulte Zusammenkünfte, satanistische Symbole und Beschwörungsformeln. Eine paranormale Begabung, gepaart mit einem Hang zum Bösen scheint das Erbe zu sein, das sich in dieser Familie fortpflanzt. Denn „Hereditary“, der Titel des Films, heißt so viel wie „erblich“.

Mit allen Kräften versucht Annie, die ebenfalls übersinnlich begabt ist, sich von diesem Erbe zu befreien. Doch Joannie, die nette ältere Dame aus der Selbsthilfegruppe für Hinterbliebene, der die verzweifelte Mutter ihr Herz ausschüttet, verfolgt selbst eine dunkle Agenda. Nichts ist, wie es scheint - und jede böse Ahnung, die der Film aufbaut, wird von der Grausamkeit des Finales noch übertroffen.

Filmszene aus „Hereditary“

Einhorn Film

Annie ist Modellbauerin, doch statt ihrer Aufträge baut sie besessen traumatische Szenen aus der Vergangenheit nach

Ohne diese Klassiker direkt zu zitieren, ist „Hereditary“ mindestens so unheimlich wie Roman Polanskis Satanistenthriller „Rosemary’s Baby“ (1968), und man fühlt sich im abgelegenen Familiensitz der Grahams in den Wäldern Utahs ebenso unwohl wie im Overlook Hotel aus Stanley Kubricks „Shining“ (1980).

Unheimlichkeit nach Freuds Rezeptur

Aber warum ist „Herditary“ eigentlich derart unheimlich geraten? Warum wirkt dieser Film auf Briten, Amerikaner und auf österreichische Filmkritikerinnen gleichermaßen verstörend? Sigmund Freud kennt eine mögliche Antwort. In seinem Aufsatz über „Das Unheimliche“ schreibt er 1919, der Begriff „unheimlich“ bezeichne das eigene, fremd gewordene Heim - und somit das Herzstück von Ari Asters Film.

„Primitive Überzeugungen“ werden wahr

Unheimlich sei laut Freud ferner die „Allmacht der Gedanken“ und die „Wiederbelebung von Toten“, vor allem aber, „wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen“ - wie im grandiosen Finale des Films der Fall. Vielleicht hat sich der Regisseur Freuds Aufsatz zur Brust genommen? Schade, dass der Wiener Psychoanalytiker Asters Werk nicht im Kino sehen kann - denn Freud liebte es, die eigenen Thesen in der Kunst bestätigt zu finden.

Links: