Themenüberblick

Schwache Währung, schwache Wirtschaft?

Die schwache Lira hält die Türkei vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni nach wie vor in Atem und ist längst zum Wahlkampfthema geworden. Denn die Zinsanhebung der Zentralbank am Mittwoch hielt den Verfall der Lira nur kurz auf. Das bringt die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan in Bedrängnis: Die Opposition wertet die schwache Währung als Schwäche der Wirtschaft insgesamt.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Analysten verwiesen darauf, dass die Anhebung des Leitzinssatzes nicht überzeugen konnte. Die Verunsicherung sei groß: „Wohl entscheidender als das tatsächliche Zinsniveau dürfte mittlerweile die Frage sein, wie es um die Unabhängigkeit der Zentralbank bestellt ist“, erklärte die deutsche DZ Bank am Donnerstag. Schließlich hatte Erdogan angekündigt, die Geldpolitik nach den anstehenden Wahlen unter Kontrolle bringen zu wollen.

CHP-Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince

Reuters/Osman Orsal

Die Chancen des CHP-Spitzenkandidaten Ince werden von Experten als gering, aber nicht aussichtslos eingeschätzt

Ob die Zentralbank noch unabhängig handelt oder nicht, darüber kann nur gemutmaßt werden. Jedenfalls warnte die Republikanische Volkspartei (CHP) Erdogan vor jeder Einmischung in die Entscheidungen der Zentralbank. CHP-Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince forderte Erdogan zudem auf, alle Wirtschaftsberater zu feuern, die ihn „belogen“ hätten. Er warnte außerdem, der türkischen Wirtschaft drohten „ernsthafte Turbulenzen“, wenn keine Schritte gegen den Verfall der Lira ergriffen würden - eine klare Ansage einer einst profillosen Oppositionspartei.

Experten: Erdogan nicht in Hochform

Zwar habe Erdogan, schreibt der deutsche „Spiegel“ (Onlineausgabe), die Opposition durch seine Entscheidung, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um fast eineinhalb Jahre vorzuziehen, überrumpelt. Doch echten Nutzen habe er aus dem Vorsprung bisher nicht ziehen können. Auch die übermäßige Euphorie des Publikums bei Erdogans Kundgebungen scheine heute eher wie Schnee von gestern: „Früher griff Erdogan an und gab bissige Erklärungen ab, jetzt muss er die heftigen Attacken der Opposition auf dem eigenen Platz parieren“, sagte der Onlinechef der „Cumhuriyet“, Bülent Mumay, gegenüber der Zeitung. „Früher liefen die Parteitage der AKP in der Atmosphäre eines Galadiners ab, jetzt sieht man den Blutdruck deutlich fallen.“

Erdogans wichtigster Motor für seinen Erfolg an den Urnen ist die positive Entwicklung der Wirtschaft. Viele Beobachter gehen sogar davon aus, dass Erdogan die Wahlen auch deshalb vorgezogen hat, um einem Einbruch der Wirtschaft zuvorzukommen. Und auf den ersten Blick geht es der türkischen Wirtschaft gar nicht schlecht: Sie wuchs vergangenes Jahr um 7,4 Prozent an. Jedoch verharrt die Inflation bei knapp elf Prozent, und das Leistungsbilanzdefizit wird immer größer. Ein Gutteil des Wachstums geht auf staatliche Investitionen in Infrastruktur zurück. Zudem stützt die Regierung den Konsum mit immer neuen Subventionen. Viele Ökonomen warnen deshalb inzwischen vor einer Überhitzung der Wirtschaft.

„Türkische Wirtschaft ist gedopt“

„Die türkische Wirtschaft ist gedopt“, kritisierte etwa der Istanbuler Ökonom Mustafa Sönmez kürzlich gegenüber dem „Spiegel“. Denn die konstant hohe Inflation wirke sich unmittelbar auf den Alltag der Menschen aus: Die Preise für Lebensmittel, Benzin und Kleidung seien stark gestiegen. In den Gebieten am Schwarzen Meer, wo eine Mehrheit der Menschen nach wie vor von der Landwirtschaft lebt, würden Bauern ihre Produkte nicht mehr los. Jedes vierte Bürogebäude in der Türkei stehe leer, jeder fünfte junge Türke sei ohne Arbeit.

Fraglich ist, ob sich die Wählerinnen und Wähler am Wahltag von diesen Erfahrungen leiten lassen. In einer Umfrage nannte jedenfalls noch im Jänner ein Drittel der Türken den Terror als größtes Problem des Landes. Dieser Wert fiel laut „Spiegel“ inzwischen auf 18 Prozent. Die Hälfte der Bürger betrachte jetzt die Wirtschaft als wichtigstes Thema.

Opposition geeint gegen Erdogan

Erdogans Erfolg basierte zusätzlich auf der Zersplitterung der Oppositionsparteien, die sich Anfang Mai aber zu einem Wahlbündnis zusammenschlossen, um die AKP herauszufordern. Die Allianz sei ein Schritt hin zum „größtmöglichen Konsens“, sagte der Sprecher der CHP, Bülent Tezcan. Die CHP schloss den Deal mit der neu gegründeten nationalkonservativen Iyi Parti (Gute Partei), der islamistischen Bewegung Saadet und einer weiteren rechten Partei. Die Gruppe verlautbarte, sie habe sich auf wichtige Prinzipien geeinigt. Dazu gehöre die Wiederherstellung der vollen Rede- und Pressefreiheit. Auch solle die Justiz unabhängiger von der Regierung werden.

Meral Aksener

APA/AFP/Adem Altan

Meral Aksener ist die Spitzenkandidatin der Iyi-Partei

Ince setzte zusätzlich ein Zeichen, indem er Selahattin Demirtas, den Bewerber der linken, prokurdischen HDP, im Gefängnis besuchte. Demirtas wurde im Zuge der Verhaftungswelle gegen die HDP 2016 wegen „Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“ festgenommen, will aber trotz Haft bei den Wahlen antreten. Außerdem versprach Ince, den gewaltigen Präsidentenpalast in Ankara in eine Universität zu verwandeln, sollte er die Wahl gewinnen.

Zuvor war die AKP zwar ein Bündnis mit der ulranationalistischen MHP und einer zweiten Bewegung eingegangen, jedoch scheint dieses angesichts der Vereinigung der lange zerstrittenen Oppositionsparteien zunehmend an Bedeutung zu verlieren. Trotzdem ist Erdogan immer noch der beliebteste Politiker der Türkei - und er traf entsprechende Vorkehrungen, um seine Amtszeit zu verlängern: Er verlängerte bereits zum siebenten Mal den Ausnahmezustand, der seit dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 besteht. Außerdem lässt Erdogan immer noch Razzien bei der HDP durchführen und Medien überwachen. Damit bleibt die AKP den oppositionellen Parteien - noch - einen Schritt voraus.

Links: