Sinnlose Oden an das ziellose Leben
Ein brennender Fahrschein. Unidentifizierbares Pulver auf dem Schreibtisch. Und immer wieder ein gelallter Name: „Alaba“. Das bizarre Video zum nicht minder bizarren Track „Wiener Linien“ war 2015 das erste künstlerische Lebenszeichen des Wiener Rappers Yung Hurn. Ziemlich genau drei Jahre später ist sein Debütalbum „1220“ auf Platz zwei der deutschen und österreichischen Charts eingestiegen.
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Yung Hurn umgibt sich gerne mit der Aura des Geheimnisvollen. Seinen vollen Namen verrät er nicht, bekannt sind lediglich sein Vorname, Julian, und seine vielen Aliasnamen wie K. Ronaldo und Yung Süßi. Aufgewachsen ist er in Hirschstetten, einem Teil des Bezirks Donaustadt. Er war in der Schule - ob er auch die Matura hat, ist nicht restlos geklärt. Dass er ein Kunststudium abgeschlossen hat, wie manche spekulieren, dürfte dagegen nur ein Gerücht sein.
1220 auf dem Bauch
Real scheint dagegen seine Zuneigung zur Bundeshauptstadt zu sein, die er auf eine eher verquere Weise präsentiert. 1220, die Postleitzahl der Donaustadt, trägt er als Tattoo auf dem Bauch, unterhalb seiner Schlüsselbeine steht „Otto Wagner“ und „Michi Häupl“. Auch eine seiner EPs heißt „22“. Und selbst in seiner vor Kurzem veröffentlichten R-’n’-B-Ballade „Bist Du allein“ singt er am Ende unmotiviert „1220, ja“. Noch mehr Wien-Liebe wäre kitschig.
Was Yung Hurns Schaffen anbelangt, lautet die Frage: Ist das noch Rap oder schon Kunst - oder keines von beidem? „1220“ ist sein erstes reguläres Album. Online war er schon davor eine kleine Berühmtheit. Weniger wegen des Tracks „Wiener Linien“ (der auf YouTube unter „Offizielle EM-Hymne 2016“ zu finden ist) und der gleichnamigen EP, sondern wegen „Nein“, einer sinnbefreiten Ode an die drogeninduzierte Wurschtigkeit.
„Nein“ klingt eher nach Songskizze als nach Endprodukt. Die Strophen bestehen aus kurzen Fragen - nach Marihuana, ob Yung Hurn „was zum Ziehen“ habe oder ob er aus Berlin komme. Im Refrain, sofern man ihn so nennen kann, gibt er die Antwort: „Und ich sag Nein!“ Im Video zum Track ziehen Yung Hurn und seine Crew durch Wiens innere Bezirke, wedeln mit Geldscheinen, trinken Wodka, rauchen Joints und nehmen bunte Tabletten. Die im Song transportierte „Mir ist alles egal“-Attitüde traf offenbar einen Nerv. Auf YouTube hat der Clip mittlerweile über 8,5 Mio. Aufrufe.
„Ventil“ für bürgerliche Kids
Die Wurzeln von Yung Hurns Musik liegen im Cloud-Rap. Synthesizerflächigen sorgen darin für die „wolkige“, verträumte Grundstimmung. Darunter wummern Subbässe, rasende Hi-Hat-Patterns stehen im Kontrast zu den normalerweise langsamen Tracks. Die Stimme wird mit Auto-Tune verfremdet. Das Genre entwickelte sich Ende der Nullerjahre im Süden der USA, Stars der Szene sind Lil B und A$AP Rocky.
Bald schon schwappte die Cloud-Rap-Welle nach Europa, wo sie auch in Österreich brandete. In Salzburg gründete sich im Jahr 2011 die Crew Hanuschplatzflow, ein loser Verbund von Produzenten und Musikern rund um den Rapper Young Krillin. Hanuschplatzflow brachte einen Sound in den deutschsprachigen Hip-Hop, den es bis dahin nicht gegeben hatte. Während die Produktionen und Videos der Crew online immer weitere Kreise zogen, schlug ihnen aus der Rap-Szene teilweise heftige Ablehnung entgegen.
Ebenfalls Teil des Teams ist ein gewisser Lex Lugner, der lange Zeit Yung Hurns Haus-und-Hof-Produzent war. „Wir haben ihn ins kalte Wasser gestoßen“, erinnert sich Lugner in der Dokumentation „Hanuschplatzflow“ des Vice-Ablegers Noisey an die ersten musikalischen Veröffentlichungen von Yung Hurn. Der Producer mit dem klingenden Namen hat auch eine Theorie, was den Erfolg des Rappers betrifft: Hurns Fans seien Kids aus bürgerlichen Haushalten, denen eingeimpft worden sei, sich zu benehmen. „Yung Hurn ist für sie ein Ventil. (...) So wie er rüberkommt, ist er ein Typ, der sich um nichts Sorgen macht und der nur Drogen nimmt. Das passt gut in die aktuelle Zeit.“
Rap ist der neue Punk
Die Produktionen von Hanuschplatzflow entwickeln ihren Charme über die Imperfektion. Die Reime holpern dahin, bei den Texten kann man sich nie sicher sein, ob sie ernst gemeint oder nur eine Parodie sind. Es geht um Drogen, den Rausch und um die Liebe zu Frauen und zur Crew. Hinzu kommen wahlweise ein Schuss Dada, wie beim Salzburger Rapper Crack Ignaz, dem selbst ernannten „König der Alpen“. Oder ein bisschen Gangsterattitüde (inklusive Spielzeuggewehren) wie in „1 Berg Money“ von Young Krillin und Yung Hurn. Oder ein Spritzer Austropop wie bei Ernst Palicek.
Die Einstellung der Crew zum Musikmachen lässt sich in drei Worten beschreiben: Do it yourself. Man sollte an keinem Text länger als zehn Minuten schreiben, sagte Yung Hurn einmal in einem Interview. Young Krillin erklärte, Produktionen einfach ins Netz zu stellen und zu schauen, was hängenbleibt. „Diese Do-it-yourself- und Nix-scheißen-Haltung ist Punk in Reinkultur. Hip-Hop ist nur das zeitgenössische Gefäß, in das sich diese Haltung entlädt, YouTube ihr Vertriebskanal in die Welt, das Smartphone die Anbindung der Endverbraucher“, schrieb der „Standard“.
Die bei jeder Gelegenheit zur Schau gestellte Wurschtigkeit hat Yung Hurn Erfolg, aber einen zweifelhaften Ruf beschert. Der „Kurier“ bezeichnete ihn in einer Konzertkritik als „Rap-Posterboy für Leistungsverweigerer“. In Sachen Output allerdings kann man ihm kaum Leistungsverweigerung vorwerfen: In den letzten drei Jahren hat er unzählige Songs und Videos als Yung Hurn oder unter einem seiner zahlreichen Künstlernamen veröffentlicht. Und auch wenn er bisweilen wie eine Kunstfigur wirkt, scheinen ihnen die Fans als authentisch wahrzunehmen. Das ist essenziell, schließlich ist „Realness“ die Leitwährung des Hip-Hop.
Big in Berlin
Von der Salzach ging es für Yung Hurn weiter an die Spree. Mittlerweile gehört er dem Berliner Kollektiv Live From Earth an. Zudem erhielt er Hilfe von Mitgliedern eines Österreicher-Netzwerks, das sich in der Hip-Hop-Szene der deutschen Hauptstadt etabliert hat. Im Zentrum steht Andreas Janetschko, besser bekannt unter seinem Künstlernamen DJ Stickle. Gemeinsam mit seinem Kompagnon Chakuza (Peter Pangerl) zog der gebürtige Linzer 2003 nach Berlin, wo er bei Bushidos Label Ersguterjunge rasch zum gefragten Producer aufstieg.
Stickle hat die Qualität der Produktionen von Yung Hurn auf ein neues Level gehoben. Mit der Love Hotel Band haben sie zum Spaß ein weiteres Bandprojekt gestartet, mit dem sie bereits beim deutschen Melt Festival und bei der Fashion Week in Paris und Berlin aufgetreten sind - mehr dazu in fm4.ORF.at.
Mit Rap hat die Love Hotel Band nichts mehr zu tun, mit kitschigem Pop dafür umso mehr. Die Band hat einen ganz besonderen Fan: den deutschen Schauspieler Lars Eidinger, der einen Gastauftritt im Video zum Song „Diamant“ hingelegt hat. Überhaupt scheinen Berlins Kunst- und Modewelt dem Yung Hurn momentan zu Füßen zu liegen. Für ein Promovideo eines Sportschuhherstellers durfte er mit Daniel Richter ein Bild malen. Im Clip entspinnt sich fast so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Außerdem modelt der Rapper für einen großen deutschen Onlineversandhandel. Was ihm mutmaßlich „1 Berg Money“ bringt.
Der König des Dancehall-Raps
In Berlin zu Hause ist auch Raf Camora (bürgerlich Raphael Ragucci), der mit seiner Mischung aus Dancehall-Beats und Rap gerade den deutschen Markt aufmischt. In Wien-Fünfhaus aufgewachsen, zog der Rapper von Stickle und Chakuza inspiriert vor zehn Jahren in die deutsche Hauptstadt. 2013 landete er mit seinem Album „Hoch 2“ auf Platz eins der deutschen Charts.
In Österreichs Massenmedien wurde der Erfolg lange Zeit übersehen - was bei Camora die Hassliebe zu seiner alten Heimat befeuerte. Mit „Palmen aus Plastik“ (gemeinsam mit Bonez MC) und seinem Soloalbum „Anthrazit“ gelang ihm 2016 und 2017 ein Doppelschlag. Im Vorjahr war er einer der meistgestreamten Musiker Deutschlands.
Chancen durch fehlende Aussichten
Ob im Pop oder im Hip-Hop: In den vergangenen fünf Jahren scheint sich Österreich, was neue Sounds betrifft, als Versuchslabor für den deutschen Musikmarkt etabliert zu haben. Zur Frage, wie das passieren konnte, hat der in Berlin lebende österreichische Produzent Nvie Motho gegenüber FM4 eine Theorie aufgestellt, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Aufgrund der nicht vorhandenen Chancen haben österreichische Künstlerinnen und Künstler weniger Druck und mehr Zeit, in der jeweiligen Szene Fuß zu fassen.
Im Lauf der Zeit entsteht so ihr ganz eigener Sound, losgelöst von aalglatten Popambitionen oder vermeintlichen Hitrezepturen. Diese österreichische unangepasste Rohheit in der Musik klingt in den Ohren deutscher Hörerinnen und Hörer ungewöhnlich und charmant.
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