„Sehe mich stark liberal geprägt“
Bundeskanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz im Interview mit ORF.at zur Umgestaltung der ÖVP, zur Rolle konservativer Politik, zur FPÖ und deren Vergangenheitsaufarbeitung, warum man das Zeitfenster bis 1. Juli jetzt beherzt nutzen müsse - und schließlich zu seinem Umgang mit politischem Gegenwind.
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Herr Bundeskanzler, wissen Sie, was Sie am 13. Dezember 2019 machen werden?
Sebastian Kurz: Ich habe es mir noch nicht überlegt. Wieso der 13.?
Blickt man auf ihre letzten vier Vorgänger, dann sind ÖVP-Chefs im Schnitt 943 Tage im Amt. Und das wäre in Ihrem Fall der 13. Dezember ...
Wirklich? Was ich an dem Tage mache, das weiß ich noch nicht. Welche Funktion ich haben werde, das, glaube ich, weiß ich schon: Bundeskanzler und Chef der Volkspartei zu sein.
Warum war es in der Vergangenheit so schwer, die ÖVP zu führen?
Das ist jetzt so pauschal schwierig zu beantworten. Jede Person ist unterschiedlich. Jeder hat einen anderen Stil, eine andere Schwerpunktsetzung. Als ich die Volkspartei vor einen Jahr übernommen habe, war mir wichtig, die Möglichkeit zu haben, die Volkspartei zu führen und zu verändern. Deshalb habe ich damals sieben Punkte vorgeschlagen, die sich statutarisch ändern mussten. Es gab dann eine Diskussion dazu, es gab die Zustimmung, und das wurde auch im Statut verankert. Ich habe seither die Möglichkeit, als Parteichef die Listenerstellung für Parlamentswahlen zu machen, das Regierungsteam auszuwählen - und ich glaube, diese Veränderung der Entscheidungsstruktur in der Volkspartei hat der Volkspartei gutgetan. Der Hauptgrund, warum wir bei den Wahlen erfolgreich waren, liegt an der Öffnung unserer Bewegung, der sich 250.000 Menschen angeschlossen haben. Insofern bin ich sehr dankbar, dass wir am 15. Oktober dann auch von der Bevölkerung so viel Vertrauen erhalten haben.

ORF.at/Lukas Krummholz
Apropos Veränderungen: Was sagen Sie traditionellen ÖVP-Mitgliedern, die sich nach wie vor standhaft als „Schwarze“ bezeichnen und nicht „türkis“ sein wollen?
Ich glaube, dass gerade die Kombination aus den Stärken der VP in den Ländern und neuen Menschen, die zu uns gestoßen sind und noch nie politisch engagiert waren, eine richtige war und ist und uns so stark macht. Was die Farbwelten betrifft, habe ich einfach mit der Farbe weitergearbeitet, die ich immer verwendet habe. Und Türkis ist mittlerweile Symbol für Veränderung geworden.
Sie haben viele neue Wähler für die ÖVP gewonnen, darunter zahlreiche Stimmen, die Sie Ihrem jetzigen Koalitionspartner abgenommen haben. Gleichzeitig gibt es klassische, bürgerlich-liberale ÖVP-Stammwähler im urbanen Bereich, die sich mit Ihrer ÖVP schwertun. Wie wollen Sie diese wieder zurückgewinnen?
Ich glaube, da missinterpretieren Sie ein bisschen die Fakten. Wir haben uns in Wien im Vergleich zur letzten Landtagswahl bei der Nationalratswahl verdoppelt. Wir haben insbesondere in den Städten überproportional gut abgeschnitten. Warum? Weil wir eine bürgerlich-liberale Kraft der Mitte sind. Wir haben eine Kombination aus liberalem und christlich-sozialem Gedankengut. Aber gerade in den Städten waren wir erfolgreich.
Aber gerade in der liberalen Mitte gibt es ja Wähler, die zuletzt etwa NEOS als temporäre Heimat gefunden haben ...
Natürlich wollen wir als Bewegung weiter wachsen, das ist ganz klar unser Ziel. Aber wir sind gleichzeitig sehr dankbar, dass wir am 15. Oktober über 31 Prozent der Stimmen erlangen konnten. Das zweite Mal innerhalb der letzten knapp 60 Jahre hat die Volkspartei eine Wahl gewonnen, das ist natürlich für uns ein historischer Erfolg und ein ganz entscheidender Tag. Es war aber kein Selbstzweck, diese Wahl zu gewinnen, sondern das gibt uns die Kraft für die Veränderung, die es in unserem Land braucht. Der 15. Oktober hat uns so stark gemacht, dass wir die Versprechen aus dem Wahlkampf jetzt auch umsetzen können. Was uns bereits in den ersten 100 Tagen gelungen ist, ist ein massiver Kurwechsel in der österreichischen Politik, Steuerentlastung statt neuer Steuern, ein ausgeglichenes Budget statt ständig neuer Schulden und eine restriktive Migrationspolitik statt staatlichen Kontrollverlusts.
Was macht einen modernen Konservativen aus? In Deutschland sagen ja viele Konservative in der Union, er müsse so sein wie Sebastian Kurz?
Es ist gut so, wenn unsere Parteien unterschiedlich sind, dass Politiker höchst unterschiedlich sind. Insofern möchte ich da auch nicht verallgemeinern und schon gar keine Tipps geben. Ich kann nur sagen, wie ich ticke. Mit dem Wort „konservativ“ fange ich wenig an, weil das immer sehr bewahrend klingt, und insofern sehe ich mich nicht als konservativ, sondern bin sehr stark liberal und christlich-sozial geprägt, und das spiegelt sich natürlich auch in meiner Politik der Veränderung wieder. Wie in Deutschland Politik gemacht wird, das ist eine deutsche Entscheidung.

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Sind die Zeiten etablierter Parteien ohnedies Vergangenheit? Braucht es in der Gegenwart Bewegungen statt Parteien?
Das muss jede Partei für sich entscheiden. Für mich ist klar, dass das der einzige Weg ist, den ich gehen möchte. Ich halte das System, wo Parteibücher vererbt werden oder Menschen sich auf Lebenszeit politisch engagieren, für antiquiert. Es ist gut, dass wir mit der neuen Volkspartei eine Bewegung aus der Mitte der Bevölkerung geschaffen haben. Die auf bewährten starken Kräften aufbaut, die wir gerade im ländlichen Raum haben, und wo sich sehr, sehr viele Menschen engagieren und einen politischen Beitrag leisten wollen. Manche vielleicht nur auf Zeit, manche vielleicht nur zu einem Thema. Das alles ist möglich, und das tut uns gut.
Ihre Partei hat sich im Hintergrund zuletzt sehr eingesetzt dafür, dass ein gemeinsames Gedenken der Regierung, also auch mit den FPÖ-Mitgliedern, etwa bei der Gedenkfeier in Mauthausen, möglich ist. Wie können Opferverbände überzeugt werden, dass die FPÖ eine Partei ist, in der Antisemitismus keinen Platz hat, und dass sie es mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit ernst meint?
Beides ist notwendig in unserer Gesellschaft. Zum einem ein Anprangern, wenn immer es Antisemitismus gibt, und auch ein Dagegenankämpfen. Und zum Zweiten auch Anerkennung dafür, wenn sich jemand weiterentwickeln möchte oder wenn jemand bewusst versucht, seine Partei, seine Organisation, seine Institution von diesem abscheulichen Gedankengut zu reinigen. Das ist ein Prozess, der in anderen Parteien schon stattgefunden hat. Ich finde es gut und notwendig, dass diese historische Aufarbeitung jetzt auch in der FPÖ stattfindet, und ich halte es auch für richtig, dass der Vizekanzler klar gesagt hat, insbesondere auch auf dem Akademikerball, dass, wer antisemitisches Gedankengut vertritt, in seinen Reihen keinen Platz hat.
Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang etwa Aussagen von Johann Gudenus über George Soros?
Ich habe mich zu dieser Wortmeldung ohnehin schon geäußert. Ich teile die Art und Weise dieser Kritik nicht. Ich glaube, dass es möglich sein muss, Kritik zu äußern. Dies sollte auf eine sehr sachliche Art und Weise geschehen, insbesondere nach den Untergriffen (gegen Soros, Anm.), die es in Ungarn gegeben hat und in denen teilweise antisemitische Ressentiments geschürt wurden.
Bei den Grundprinzipien des Regierungsprogramms steht: „Wir wollen unsere Heimat Österreich als lebenswertes Land mit all seinen kulturellen Vorzügen bewahren. Dazu gehört auch, selbst zu entscheiden, wer als Zuwanderer bei uns leben darf, und illegale Migration zu beenden.“ Wer hat in Österreich Platz - und wer nicht?
Platz hat jeder, der legal hier lebt und seinen Beitrag in unserem Land leistet. Es ist aber unsere Aufgabe als Republik zu entscheiden, wer zuwandern darf und wer nicht. Diese Entscheidung ist in den vergangenen Jahren unter sozialdemokratischer Führung den Schleppern überlassen worden. Die Migrationspolitik der Europäischen Union der letzten Jahre ist gescheitert. Das hat, glaube ich, mittlerweile fast jeder erkannt. Weil man eben nicht versucht hat, Migration zu steuern - und das ist fahrlässig. Zusammenleben, Integration wird nur dann gelingen, wenn wir auch steuern, wer zu uns zuwandern darf und wer nicht. Und diese Entscheidung darf man nicht den Schleppern überlassen.

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CSU-Chef Horst Seehofer, der sich ja kritisch zum Thema Islam und Europa geäußert hat, schrieb zuletzt in einem Gastbeitrag in der „FAZ“, man solle mit dem Begriff „Heimat“ statt des Konzepts „Leitkultur“ operieren. Mit dieser Lösung würde man deutlich weiterkommen, anstatt sich in Debatten zu verheddern. Wie sehen Sie das? Brauchen wir einen Leitkulturbegriff? Kann der Verweis auf eine Vorstellung von „Heimat“ genügen?
Entscheidend ist nicht, welche Begrifflichkeit wir hier verwenden. Entscheidend ist, dass wir uns unserer Prägung, der christlich-jüdischen und jener, die durch die Aufklärung stattgefunden hat, nicht nur bewusst sind, sondern dass wir diese Prägung auch verteidigen. Denn natürlich kommen durch Migrationsströme auch andere Geisteshaltungen, Prägungen, Traditionen nach Europa, die teilweise problematisch sind. Hier ist es wichtig, unsere christlich-jüdische und durch die Aufklärung geprägte Kultur zu schützen, und das bedeutet, dass Religionsfreiheit eine Selbstverständlichkeit sein muss. Gleichzeitig kann es aber nur null Toleranz zum politischen Islam geben und anderen Traditionen gegenüber, die bei uns in Österreich keinen Platz haben.
Viele Kommentatoren erwarten, dass bestimmte Reformen erst jetzt kommen können, nachdem die Landtagswahlen geschlagen sind. Wie viel Gegenwind erwarten Sie von den Ländern, von den Maßnahmen in der Schulpolitik bis hin zur finanziellen Bewältigung des Pflegeregresses?
Wir haben uns im Regierungsprogramm ganz klar vorgenommen, Österreich zu verändern und auch notwendige Reformen endlich durchzusetzen, und genau das tun wir als Bundesregierung. Wir haben in den ersten 100 Tagen einen Kurswechsel in drei sehr wichtigen Bereichen geschafft: ausgeglichenes Budget, Steuersenkung, restriktive Migrationspolitik. Jetzt haben wir bis zum 1. Juli, wenn wir den Ratsvorsitz übernehmen, ein Zeitfenster, in dem wir drei ganz zentrale Reformen beschließen wollen: Das ist zum Ersten die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger. Das wurde jahrzehntelang diskutiert, doch dieses Projekt hat nie stattgefunden. Wir werden vor dem Sommer noch einen Ministerratsvortrag auf den Weg bringen. Das Zweite ist die Reform der Mindestsicherung, bei der wir sicherstellen wollen, dass Menschen, die neu zu uns zugewandert sind und nichts in unser System einbezahlt haben, weniger bekommen als Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben.

ORF.at/Lukas Krummholz
So wollen wir unser System der Mindestsicherung gerechter machen. Und die soll auch die Anziehungskraft unseres Sozialsystems für Zuwanderungen in das Sozialsystem reduzieren. Und der dritte Bereich betrifft die Deregulierungsoffensive von Josef Moser, bei der wir Maßnahmen setzen werden, um die überbordende Regulierung und Bürokratie zurückzudrängen. Dazu gehört natürlich auch, dass wir eine bessere Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern sicherstellen wollen.
In welchen Bereichen gehören Regelungen österreichweit harmonisiert? Wie viel Föderalismus verträgt Österreich?
Ich bin ein absoluter Befürworter der Subsidiarität auf europäischer Ebene. Das heißt, dass sich die Europäische Union auf das fokussieren soll, wo es Zusammenarbeit braucht. Das betrifft die großen Fragen. Auf regionaler und nationaler Ebene gibt es dafür Entscheidungen, die besser dort getroffen werden. Dieses Modell der Subsidiarität ist auch innerhalb eines Staates sinnvoll. Aber es braucht eine bessere Aufgabenverteilung, auch klarere Aufgabentrennungen, und an dem arbeitet unter anderem Josef Moser. Es braucht nicht bei jedem Thema bundeseinheitliche Standards.
Sie planen ja die Reduktion der Sozialversicherungen. Warum setzt man in einer Modernisierung der Sozialversicherungen nicht überhaupt auf Wettbewerb, also Versicherungspflicht statt Pflichtversicherung?
Wir glauben, dass es nicht sinnvoll ist, dass Österreich sich als kleines Land 21 Sozialversicherungsträger leistet. Daher führen wir in Österreich die Sozialversicherungen auf fünf Träger zusammen. Das bringt massive Einsparungen in der Verwaltung, reduziert die Zahl der Funktionäre in den Führungsetagen, schafft ein schlankeres System und führt dazu, dass bei den Patienten und Versicherten mehr Leistungen ankommen werden bzw. wir die Beiträge reduzieren können. Und das ist ein notwendiger Reformweg, der jahrzehntelang diskutiert wurde, den wir jetzt Wirklichkeit werden lassen.
Apropos EU: Was Sind Ihre Vorhaben und Messlatten für den kommenden Ratsvorsitz? Sie haben ja zuletzt von der EU die Bereitschaft zu „unangenehmen Entscheidungen“ eingemahnt?
Das Wichtigste ist, dass wir den Schengen-Raum schützen, indem wir ordentliche Außengrenzen sicherstellen. Ein Europa ohne Grenzen nach innen funktioniert nur, wenn es auch einen ordentlichen Außengrenzschutz gibt, und ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, gerade die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit, der Verteidigung, des Außengrenzschutzes zu stärken, und dass wir hier eine gewisse Bewegung in Gang setzen können.

ORF.at/Lukas Krummholz
Abschließende Frage: Seit Ihrem Wahlsieg dezimiert sich die Zahl der Oppositionsführer. Wie viel Gegenwind erwarten Sie künftig von der Opposition?
Ich bin Gegenwind sehr gewohnt. Ich setze mich nicht damit auseinander, andere Parteien schlechtzureden oder anzupatzen, so wie das sonst von so vielen tagtäglich gemacht wird. Mein Fokus ist auf meine Arbeit gerichtet und nicht auf die Opposition. Immer wenn man etwas verändert, gibt es Gegenwind: von anderen Parteien, manchmal aus der eigenen Partei oder von Betroffenen, die versuchen, ihre Interessen zu wahren. Das ist ganz normal. Wer etwas verändert, der erlebt auch Reibung und Gegenwind. Wir werden unsere Reformprojekte durchsetzen, unabhängig davon, ob es jetzt Streiks oder Demonstrationen gibt. Wir werden das tun, was wir für richtig erachten. Weil wir dafür gewählt wurden. Und wir werden genau das umsetzen, was wir im Wahlkampf versprochen haben.
Das Interview führte Gerald Heidegger, ORF.at