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„Wer etwas verändert, erlebt Reibung“

Ein Jahr ist Sebastian Kurz nun Parteichef der Volkspartei, die sich in den Regionen oft noch über die Farbe Schwarz definiert - in der aber in vielen Bereichen kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Im ORF.at-Interview verteidigt der Bundeskanzler seine Befugnisse in der Partei, argumentiert, warum es eher eine Bewegung als eine Partei alten Zuschnitts braucht. Und er verteidigt vehement den Regierungskurs. Man werde sich von „Gegenwind“ nicht von den Reformprojekten abhalten lassen. „Wir werden das tun, was wir für richtig erachten“, so Kurz.

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Zum Umgang seines Koalitionspartners FPÖ mit der freiheitlichen Vergangenheit möchte Kurz klare Worte finden. Antisemitismus dürfe keinen Platz haben. Kritik, etwa wie zuletzt jene durch den geschäftsführenden FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus am Milliardär George Soros, müsse sachlich und ohne missverständliche Andeutungen geführt werden, so Kurz.

Kurz und die Wende in der Volkspartei

943 Tage dauerte die durchschnittliche Amtszeit der vier Vorgänger von Kurz als Chef der Partei. Den Umstand, warum die ÖVP schwer zu führen sei, könne man, so Kurz, „pauschal“ schwierig beantworten. Deutlich macht Kurz seinen Anspruch, noch länger ÖVP-Chef und auch Bundeskanzler bleiben zu wollen.

„Als ich die Volkspartei vor einem Jahr übernommen habe, war mir wichtig, die Möglichkeit zu haben, die Volkspartei zu führen“, erläutert Kurz. Deshalb habe er sieben Punkte vorgeschlagen, die sich in den Statuten ändern mussten, darunter weitreichende Bestimmungsrechte für den Parteichef von den Wahllisten bis hin zum Regierungsteam aus den eigenen Reihen. „Diese Veränderung der Entscheidungsstruktur in der Volkspartei hat der Volkspartei gutgetan. Der Hauptgrund, warum wir bei den Wahlen erfolgreich waren, liegt an der Öffnung unserer Bewegung, der sich 250.000 Menschen angeschlossen haben“, so der ÖVP-Chef.

Bundeskanzler Sebastian Kurz im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

„Veränderung in der Entscheidungsstruktur hat Volkspartei gutgetan“, so Kurz im Gespräch mit Gerald Heidegger

Türkis als Farbe der Veränderung

Die Idee der „Bewegung“ verteidigt Kurz ebenso wie die Wahl einer neuen Farbe gegenüber jenen, die sich weiter als „Schwarze“ sehen möchten: „Ich glaube, dass gerade die Kombination aus den Stärken der VP in den Ländern und neuen Menschen, die zu uns gestoßen sind, die noch nie politisch engagiert waren, eine richtige war und ist und uns so stark macht.“ Was die Farbwelten betreffe, habe er die Farbe eingebracht, mit der er immer schon gearbeitet habe, und Türkis sei mittlerweile ein Symbol für Veränderung geworden.

„Parteibuch auf Lebenszeit ist antiquiert“

Die Ausrichtung der Volkspartei als Bewegung, der man sich auch „temporär“ anschließen könne, sei für ihn der einzige Weg, den er gehen wolle. „Ich halte das System, wo Parteibücher vererbt werden oder Menschen sich auf Lebenszeit politisch engagieren, für antiquiert“, so Kurz, der aber die etablierte Stärke der Volkspartei in den Ländern lobt. An diese Struktur müssten sich aber Leute andocken können, die „einen politischen Beitrag leisten“ wollten: „Manche vielleicht nur auf Zeit, manche vielleicht nur zu einem Thema. Das alles ist möglich und das tut uns gut.“

Bundeskanzler Sebastian Kurz im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

„Bin Gegenwind gewohnt“, sagt Kurz gelassen: „Wer verändern will, stößt auf Widerstand, das ist normal“

Nur mit dem Erfolg aus der Mitte und der Stärkung bei der Wahl hätte man mit der neuen Regierung rasch radikale Reformprojekte angehen können: "Was uns bereits in den ersten 100 Tagen gelungen ist, ist ein massiver Kurwechsel in der österreichischen Politik, Steuerentlastung statt neuer Steuern, ein ausgeglichenes Budget statt ständig neuer Schulden und eine restriktive Migrationspolitik statt staatlichen Kontrollverlusts.

Kurz würdigt Rolle von Strache

Angesprochen auf die Debatten um die Vergangenheitsaufarbeitung beim Koalitionspartner legt sich Kurz fest: Er möchte anerkennen, „wenn sich jemand weiterentwickeln möchte oder wenn jemand bewusst versucht, seine Partei, seine Organisation, seine Institution von diesem abscheulichen Gedankengut zu reinigen“. Das sei ein Prozess, der in anderen Parteien schon stattgefunden habe. „Ich finde es gut und notwendig, dass diese historische Aufarbeitung jetzt auch in der FPÖ stattfindet, und ich halte es auch für richtig, dass der Vizekanzler klar gesagt hat, insbesondere auch auf dem Akademikerball, dass, wer antisemitisches Gedankengut vertritt, in seinen Reihen keinen Platz hat“, so Kurz.

„Kritik sachlich äußern“

Dass die Aussagen von Gudenus gleichzeitig antisemitische Ressentiments bedienen würden, bewertet der Kanzler so: „Ich teile die Art und Weise dieser Kritik nicht. Ich glaube, dass es möglich sein muss, Kritik zu äußern. Dies sollte auf eine sehr sachliche Art und Weise geschehen, insbesondere nach den Untergriffen (gegen Soros, Anm.), die es in Ungarn gegeben hat und in denen teilweise antisemitische Ressentiments geschürt wurden.“

Zur Frage, ob es, wie von CSU-Chef Horst Seehofer zuletzt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ angestoßen, statt des Begriffs „Leitkultur“ einen klaren Heimatbegriff geben könne, meint Kurz, man solle sich nicht an Begrifflichkeiten abarbeiten: „Entscheidend ist, dass wir uns unserer Prägung, der christlich-jüdischen und jener, die durch die Aufklärung stattgefunden hat, nicht nur bewusst sind, sondern dass wir diese Prägung auch verteidigen. Denn natürlich kommen durch Migrationsströme auch andere Geisteshaltungen, Prägungen, Traditionen nach Europa, die teilweise problematisch sind. Hier ist es wichtig, unsere christlich-jüdische und durch die Aufklärung geprägte Kultur zu schützen, und das bedeutet, dass Religionsfreiheit eine Selbstverständlichkeit sein muss. Gleichzeitig kann es aber nur null Toleranz zum politischen Islam geben.“

Vignette mit Zitat von Sebastian Kurz

ORF.at

Zeitfenster für drei Reformen bis 1. Juli

Was die Vorhaben der nächsten Monate anlangt, ortet Kurz ein „Zeitfenster“ bis zum Start des österreichischen EU-Ratsvorsitzes, Anfang Juli, in dem drei Maßnahmen auf den Weg gebracht werden müssten: Die Zusammenlegung der Sozialversicherungsträger, die bisher nicht gelungen sei. Zum Zweiten die Reform der Mindestsicherung, „wo wir sicherstellen wollen, dass Menschen, die neu zu uns zugewandert sind und nichts in unser System einbezahlt haben, weniger bekommen als Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben“. Der dritte Bereich betreffe die Deregulierungsoffensive von Josef Moser, um überbordende Maßnahmen der Bürokratie zurückzudrängen - „dazu gehört natürlich auch, dass wir eine bessere Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern sicherstellen wollen“.

Bundeskanzler Sebastian Kurz im Interview

ORF.at/Lukas Krummholz

„Bessere Aufgabenstellung zwischen Bund und Ländern sicherstellen“, so Kurz in seinem Büro im Bundeskanzleramt

Für den Ratsvorsitz hat Kurz klare Erwartungen. Er möchte vor allem den inneren Schengen-Raum schützen, was für ihn einen verbesserten Schutz der EU-Außengrenze bedeute, und das erfordere eine verstärkte, verbesserte Zusammenarbeit gerade im Sicherheitsbereich.

„Migrationspolitik der EU ist gescheitert“

Die Migrationspolitik der Europäischen Union der letzten Jahre sieht Kurz als „gescheitert“ an: „Das hat, glaube ich, mittlerweile fast jeder erkannt. Weil man eben nicht versucht hat, Migration zu steuern - und das ist fahrlässig. Zusammenleben, Integration wird nur dann gelingen, wenn wir auch steuern, wer zu uns zuwandern darf und wer nicht.“ Diese Entscheidung dürfe man nicht den Schleppern überlassen.

Verantwortlich für eine verfehlte Migrationspolitik in Österreich in den letzten Jahren macht Kurz die sozialdemokratische Regierungsführung. Ob er sich von der Opposition im politischen Herbst mehr Gegenwind erwarten müsse - oder eher anzunehmen sei, dass ihm die Oppositionsführer abhandenkommen? Kurz kommentiert das so: „Ich setze mich nicht damit auseinander, da andere Parteien schlechtzureden oder anzupatzen, so wie das sonst von so vielen tagtäglich gemacht wird. Ich habe daher den Fokus auf meiner Arbeit und nicht auf der Opposition.“

Immer wenn man etwas verändere, gäbe es Gegenwind: „von anderen Parteien, manchmal aus der eigenen Partei oder von Betroffenen, die versuchen, ihre Interessen zu wahren.“ „Wer etwas verändert, der erlebt auch Reibung und Gegenwind“, so Kurz, der sich überzeugt gibt, alle Reformprojekte, die im Wahlkampf versprochen wurden, durchzusetzen, „unabhängig davon, ob es jetzt Streiks oder Demonstrationen gibt“. „Wir werden das tun, was wir für richtig erachten. Weil wir dafür gewählt wurden. Und wir werden genau das umsetzen, was wir im Wahlkampf versprochen haben“, so Kurz.

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