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Wählen, ehe der Abschwung kommt

Mit vorgezogenen Wahlen ist in der Türkei gerechnet worden, nicht aber mit einem so frühen Termin. Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte Mitte Mai an, dass die Präsidenten- und Parlamentswahlen bereits am 24. Juni stattfinden - 19 Monate früher als geplant. Die unsichere außen- und innenpolitische Lage des Landes mache diesen Schritt notwendig. Viel eher dürfte aber die absehbare wirtschaftliche Krise entscheidend gewesen sein.

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„Die Krankheiten des alten Systems begleiten uns auf Schritt und Tritt“, sagte Erdogan in seiner Fernsehansprache. Wegen des türkischen Militäreinsatzes in Syrien sowie der „historischen Entwicklungen in Syrien und dem Irak“ sei es für die Türkei notwendig, „so schnell wie möglich die Ungewissheiten“ zu überwinden. Vor einem Jahr hatten sich die Türken mit knapper Mehrheit für eine Verfassungsänderung ausgesprochen, die das bisherige parlamentarische System durch ein Präsidialsystem ersetzt. Dieses tritt nach den Wahlen in Kraft und gibt dem Präsidenten schier unbeschränkte Macht.

Ein Mann betrachtet türkische Wechselkurse

Reuters/Murad Sezer

Die türkische Lira ist im Vergleich zum Dollar so schwach wie nie zuvor

Wirtschaft steuert auf Einbruch zu

Politische Beobachter werten Erdogans Schritt als Zeichen wachsender Nervosität. Die türkische Wirtschaft sei überhitzt, sagte der in Istanbul lebende Journalist Thomas Seibert am 19. April im Ö1-„Journal um acht“, entgegen dem offiziell verbreiteten Optimismus gehe es in Wahrheit deutlich bergab - Audio dazu in oe1.ORF.at. Die Anzahl der Arbeitslosen steigt und liegt jetzt offiziell bei zwölf Prozent, die Inflation bei 13 Prozent - Zinserhöhungen, um dem entgegenzuwirken, lehnt Erdogan ab. Die türkische Lira verliert seit Monaten rapide an Wert, im Vergleich zu 2013 muss man heute mehr als doppelt so viele Lira pro US-Dollar oder Euro zahlen. Nach der Neuwahlankündigung erzielte die Lira den höchsten Wert seit über einem Jahr, ehe es am Tag danach schon wieder bergab ging.

Zwar ist die Wirtschaft im vergangenen Jahr um durchschnittlich 7,4 Prozent gewachsen, doch der Boom ist auf Pump finanziert. Darüber hinaus haben sich viele Unternehmer in Euro und Dollar verschuldet. Bei dem rapiden Wertverfall der Lira befürchten Experten schon bald eine Pleitewelle im Mittelstand. Die Türkei steuert absehbar auf eine Krise zu, sagte Seibert, die Wahlen sollten nach Erdogans Willen stattfinden, ehe der Abschwung und schmerzliche Eingriffe folgen.

Popularitätszuwachs dank Syrien-Offensive

Zu den wirtschaftlichen Problemen kommt die unsichere außenpolitische Situation. Erdogan will nun den Popularitätszuwachs nutzen, den ihm der Militäreinsatz in Afrin beschert hat. Türkische Soldaten haben die kurdische Provinz im Nordwesten Syriens schneller von der kurdischen YPG-Miliz eingenommen als erwartet. Die Europäer kritisierten die Offensive, eine breite Mehrheit der Bürger in der Türkei jedoch unterstützte sie. Westliche Bündnispartner zu finden, fällt der Türkei zunehmend schwer. Die EU hat erst vor wenigen Tagen noch einmal bestätigt, dass das Land sich aufgrund der Verletzung von Menschenrechten, Pressefreiheit und Gängelung der Justiz von der EU immer weiter entferne. Mit den USA liegt Erdogan wegen Syrien im Clinch.

Opposition läuft Zeit davon

Schließlich setzt Erdogan mit dem vorverlegten Wahltermin die Opposition unter Druck. Noch ist unklar, wer überhaupt ins Rennen gegen Erdogan geht. Auch ist offen, ob sich die Oppositionsparteien zu einem Wahlbündnis zusammenschließen. Die linksnationalistische CHP führte dazu in den vergangenen Wochen Gespräche mit der neu gegründeten Iyi-Partei und der islamisch-konservativen Saadet-Partei. Die prokurdische HDP leidet hart unter Repressionen der Regierung und muss um den Wiedereinzug ins Parlament bangen. Ihre früheren Vorsitzenden und mehrere Abgeordnete sitzen im Gefängnis, Tausende Mitglieder wurden inhaftiert.

Menschen in einer Straße in Istanbul

APA/AFP/Ozan Kose

Die Wahlen werden unter dem Ausnahmezustand stattfinden, der nach dem Putschversuch von Juli 2016 verhängt wurde

Erdogans islamisch-konservative AKP hat kürzlich mit der ultranationalistischer MHP ein Wahlbündnis geschlossen. Das soll der MHP den Sprung über die Zehnprozenthürde garantieren und Erdogan einen Sieg in der ersten Runde der Präsidentenwahl sichern. Erdogan betreibt schon seit Wochen in täglichen Reden Wahlkampf. Und er kann sich einer breiten Berichterstattung sicher sein: Im März wurde bekannt, dass die größte Mediengruppe der Türkei, Dogan Media, an den regierungsnahen Konzern Demirören geht. Damit bleiben nur noch wenige Medien übrig, die nicht in der Hand von regierungsnahen Konzernen sind.

Fairer Wahlkampf nicht möglich

Politologe Seibert sieht Erdogan als klaren Favoriten, garantiert sei ihm eine Mehrheit aber nicht - auch das Referendum von April 2017 habe er nur sehr knapp gewonnen. Gewiss sei dagegen, dass der Wahlkampf nicht fair ablaufen wird: Der nach dem Putschversuch von Juli 2016 verhängte Ausnahmezustand wurde Mitte April um drei Monate verlängert. Damit sind wichtige Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Außerdem wurde erst im März eine umstrittene Wahlreform beschlossen, die die Kontrolle der Regierung über den Wahlablauf stärkt und ihr nach Ansicht der Opposition Manipulationen erleichtert.

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