Wo die Zweite Republik ihren Anfang nahm
Erst vor wenigen Wochen schaffte es die Fassade der Villa Blaimschein in fast alle österreichischen Medien: Vor der Residenz des iranischen Botschafters hatte im März ein Bundesheersoldat einen Mann erschossen, der ihn mit einem Messer attackiert hatte. Die Villa war in der Vergangenheit aber weit mehr als nur Kulisse für einen Angriff, dessen Hintergründe noch immer nicht restlos geklärt sind.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Am Freitag ist es genau 73 Jahre her, dass vor dem Gebäude an der Ecke von Lainzer Straße und Wenzgasse eine Reihe sowjetischer Wagen vorfuhr. An Bord hatten sie Vertreter der eben erst wieder gegründeten SPÖ, ÖVP und KPÖ. Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich in Berlin feierte an diesem Tag Adolf Hitler seinen 56. Geburtstag - zehn Tage bevor der geschlagene „Führer“ in seiner gefallenen Hauptstadt Selbstmord beging.

picturedesk/ÖNB-Bildarchiv/Winkler
Die Villa Blaimschein diente im April 1945 als Verhandlungsort für die Gründung der ersten Regierung nach dem Krieg
In Berlin dauerten am 20. April 1945 die Kämpfe zwischen Alliierten und den Resten der Wehrmacht noch an. Wien war hingegen bereits eine Woche zuvor von der Roten Armee befreit worden. Die Gespräche, die in der Villa Blaimschein unter der Leitung des Sozialdemokraten Karl Renner stattfanden, hatten deshalb vor allem ein Ziel: die Einrichtung einer provisorischen österreichischen Regierung.
Unabhängigkeitserklärung nach sieben Tagen
Sieben Tage verhandelten die Parteienvertreter, unter ihnen die späteren Bundespräsidenten Adolf Schärf und Theodor Körner (beide SPÖ), der ÖVP-Politiker Leopold Kunschak und der langjährige KPÖ-Vorsitzende Johann Koplenig. Am 27. April traten die Politiker (Frauen waren keine darunter) schließlich mit Regierungs- und Unabhängigkeitserklärung an die Öffentlichkeit.
Dass die Verhandlungen in der Villa Blaimschein stattfanden, dürfte schlicht Zufall gewesen sein. Zumindest ist kein spezieller Grund bekannt, warum die sowjetische Kommandantur am 19. April gerade dieses Gebäude an Renner als Amtssitz übergab. Sie hatte sich mit der Villa aber ein Haus ausgesucht, das zu diesem Zeitpunkt bereits eine wechselhafte Geschichte hinter sich hatte.
Margarineproduzent und Villenbesitzer
Der Name, unter dem die Villa bis heute bekannt ist, stammt nicht von ihrem Erbauer, sondern vom späteren Käufer. Carl Blaimschein, 1853 in Wels geboren, war einer der führenden Butter- und Margarineproduzenten des Landes. Er besaß überdies eine Reihe an Ziegelwerken. Um 1900 stieg er endgültig in die Reihe der Wiener Großindustriellen auf. In diesem Jahr erwarb er für sich und seine erste Frau Berta auch die Hietzinger Villa.

Public Domain
Die „Neue Welt“ bot 15 Jahre lang Unterhaltung für die Wienerinnen und Wiener
Als die Blaimscheins in das herrschaftliche Haus einzogen, hatte sich die Nachbarschaft bereits in ein veritables Villenviertel verwandelt. 25 Jahre zuvor, als der Wiener Stadtbaumeister Josef Wenz für den Kaufmann Leon Mandl die Villa errichtete, bot die Gegend noch ein anderes Bild. Nur wenige hundert Meter vom Grundstück entfernt stand damals noch die „Neue Welt“: ein Vergnügungspark, gegründet vom legendären Wiener Lokalbetreiber Carl Schwender. Die Blaimscheins bekamen davon nichts mehr mit. 1881 musste die wirtschaftlich in schwere Turbulenzen geratene Familie Schwender die „Neue Welt“ zusperren.
Schicksal der Villa während des Kriegs
Carl Blaimschein starb 1933, seine Villa ging an seine zweite Frau Irma. In der Literatur findet sich öfters der Hinweis, dass sie nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland geflüchtet und die Villa „arisiert“ worden sei. Das scheint auf den ersten Blick auch das allgemeine Wiener Adressverzeichnis zu bestätigen, das ab 1941 das Apothekerehepaar Kretschmer als Eigentümer der Liegenschaft führt. Auch der hochrangige deutsche Wehrmachtsoffizier Henning von Thadden war laut dem Verzeichnis zu dieser Zeit an der Adresse in Wien gemeldet.
Der Hietzinger Bezirkspolitiker Klaus Daubeck weist gegenüber ORF.at aber darauf hin, dass es sich bei Frau Kretschmer um Irma Blaimschein selbst handle. Diese habe den Apotheker Josef Kretschmer geheiratet. Im Grundbuch ist auch tatsächlich zwischen 1938 und 1945 weder ein Entzug noch eine Beschlagnahme vermerkt. Dafür findet sich dort ein Eintrag, der den Namenswechsel von Irma Blaimschein auf Kretschmer festhält.
Es waren also nicht die Nazis, sondern die Sowjettruppen, die die Villa - kurzzeitig - beschlagnahmten. Nach dem offiziellen Kriegsende am 8. Mai 1945 bekam Irma Blaimschein das Haus jedenfalls restituiert. 1957 verkaufte die Familie das Gebäude an den Schah von Persien. 22 Jahre und eine Revolution später war der Schah nicht mehr Schah, Persien nicht mehr Persien und die Villa im Besitz der Islamischen Republik Iran.
Politik der Ablehnung
Viele Juden, die vor dem Nazi-Regime geflüchtet waren oder die Konzentrationslager überlebt hatten, blieb die Rückerstattung ihres gestohlenen Besitzes in den Jahren nach dem Krieg verwehrt. Daran hatten auch jene ihren Anteil, die in der Villa der Blaimscheins an einem neuen Österreich bastelten. Kunschak, für die ÖVP Präsident des wieder gegründeten Nationalrats, sprach sich bereits im Herbst 1945 energisch gegen die Rückkehr vertriebener Juden aus.
Und der Sozialdemokrat Renner, inzwischen der erste Bundespräsident der Zweiten Republik, sagte im Februar 1946: Er glaube nicht, „dass Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen“. Mit dieser Meinung konnten sich die beiden Politiker nicht allein wissen.
Links:
Martin Steinmüller-Schwarz, ORF.at