Themenüberblick

„Systemische Bedrohung der Demokratie“

Ministerpräsident Viktor Orban erhöht nach seinem klaren Wahlsieg vom vergangenen Wochenende sukzessive den Druck auf regierungsunabhängige Stimmen. Der Rechtspopulist scheint dabei keine Zeit verlieren zu wollen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Zuletzt veröffentlichte die Wochenzeitung „Figyelö“ eine Liste von 200 Personen, die angeblich zum Netzwerk von US-Milliardär und Philanthrop George Soros - Orbans personifiziertem Hassobjekt - gehören. Der Premier beschuldigt Soros, von außen eine „Masseneinwanderung“ in die EU zu steuern. Unter dem Titel „Die Leute des Spekulanten“ listet das Blatt die Leiter verschiedener Zivil- und Menschenrechtsorganisationen, darunter Transparency International, Helsinki Komitee und Amnesty International, sowie Professoren der von Soros gegründeten Budapester Central European University (CEU) auf.

Wahlplakat von George Soros

APA/AFP/Attila Kisbenedek

Anti-Soros-Plakate waren im Wahlkampf allgegenwärtig

Pelinka: „Wie Aufforderung zu einem Pogrom“

Unter Letzteren sind auch ausländische Lehrkräfte, etwa der österreichische Politologe Anton Pelinka, der seit 2006 an der CEU unterrichtet. In einer Stellungnahme gegenüber ORF.at sagte Pelinka: „Ich persönlich bin nicht verunsichert - aber nachdenklich. Die Erstellung einer solchen Liste ist wie die Aufforderung zu einem Pogrom. Dass solches in einer offenbar regierungsnahen Zeitung in einem Mitgliedsstaat der EU möglich ist, müsste Alarmglocken läuten lassen.“

Auf Kritik an der Veröffentlichung der Namen reagierte „Figyelö“ auf ihrem Onlineportal mit Zynismus: Es gebe keinen Grund zur Sorge, man könne sich immer noch auf die Liste setzen lassen, die am Ende 2.000 Personen umfassen solle. „Jeder Betroffene kann in die erweiterte Namensreihe aufgenommen werden, wenn er uns via online@figyelo.hu kontaktiert.“ Wer sich „schämt“, könne auf Wunsch gestrichen werden. „Figyelö“ befindet sich im Besitz der Historikerin, Unternehmerin und Orban-Beraterin Maria Schmidt.

Bericht spricht Bände

„Voreingenommene Medien“, „stark polarisierte“ Berichterstattung und die „eindeutige Bevorzugung“ der Regierung im staatlichen Rundfunk haben Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Ungarn anlässlich des jüngsten Urnengangs attestiert. Ein Bericht des britischen „Guardian“ zeigt nun, wie viel Wahrheitsgehalt dahintersteckt.

Viktor Orban

APA/AFP/Attila Kisbenedek

Orbans dritte Amtszeit in Serie wurde am 8. April eingeläutet

Journalisten des steuerfinanzierten ungarischen Fernsehens Magyar Televizio (MTV) berichten darin, wie Beiträge aufbereitet, teils auch erfunden wurden, um Orbans fremdenfeindliche Botschaften unter das Volk zu bringen. Sie schildern der Zeitung, wie ausschließlich negativ und im Zusammenhang mit Kriminalität und Terrorismus über Flüchtlinge und Migranten berichtet wurde. Am Wahltag in Ungarn behauptete der Sender M1 standhaft, die Amokfahrt im deutschen Münster am selben Tag sei ein islamistischer Terroranschlag gewesen. „Eine einzige Lüge - so etwas habe ich selbst hier noch nie erlebt“, zitierte der „Guardian“ einen Journalisten.

Pawlow’scher Reflex antrainiert

„Gefahr, Terrorismus, Migranten, Opposition, Soros, Brüssel - diese Worte sollten einen Pawlow’schen Reflex auslösen.“ Immer wieder wurden Archivaufnahmen von durch Budapest ziehenden Migranten, Zusammenstößen zwischen Flüchtlingen und Sicherheitskräften an der ungarisch-serbischen Grenze oder Terroranschlägen in Europa gezeigt. „Toleranz wurde regelmäßig kritisiert, eine migrationsfeindliche Haltung als die einzig mögliche dargestellt“, sagte der Journalist.

Die Reihen der orbankritischen Medien lichten sich sukzessive: Am Mittwoch stellte „Magyar Nemzet“ nach 80 Jahren und ohne Vorwarnung den Betrieb ein. Die Traditionszeitung gehörte seit 2000 dem Oligarchen Lajos Simicska, einst ein enger Vertrauter Orbans. 2015 kam es zum Zerwürfnis, Simicska ließ all seine Medien auf einen regierungskritischen Kurs einschwenken und berichtete immer wieder über mutmaßliche Korruptionsfälle im Umfeld Orbans. Die Folge: Alle staatlichen Werbeeinschaltungen gingen verloren, die Unternehmen fuhren nur noch Verluste ein.

Frau liest die zeitung "Magyar Nemzet"

Reuters/Bernadett Szabo

Aus nach 80 Jahren: „Magyar Nemzet“ wurde ausgehungert

Die meisten im ausländischen Besitz befindlichen Medien wurden nach und nach in ungarische - meist regierungsnahe - Hand überführt, etwa 2015 der Privatsender TV2. Im Oktober 2016 stellte die Firma Vienna Capital Partners (VCP) des Wiener Investors Heinrich Pecina überraschend die renommierte linksliberale Tageszeitung „Nepszabadsag“ ein. Im gleichen Zug wurde der Verlag Mediaworks, zu dem „Nepszabadsag“ gehörte, an eine regierungsnahe ungarische Firma verkauft. Dabei ging es eigentlich um das Regionalzeitungsportfolio des Verlages - die vor allem in ländlichen Gegenden viel gelesenen lokalen Blätter wurden in den darauffolgenden Monaten gleichgeschaltet.

EU-Papier sieht Sanktionen gerechtfertigt

Im EU-Parlament mehren sich die Stimmen, gegen Budapest ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge einzuleiten. Ein solches Verfahren hatte die EU-Kommission im Dezember gegen Polen gestartet, es kann in letzter Konsequenz zum Stimmrechtsentzug im Ministerrat führen. Das Parlament hatte sich bereits in einer Resolution im Mai 2017 sehr kritisch über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn geäußert und die niederländische Grünen-Abgeordnete Judith Sargentini mit der Erstellung eines offiziellen Berichts beauftragt.

Sargentini kommt in dem vorgelegten 26-seitigen Papier zu dem Schluss, dass eine „systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn“ herrsche. Sie verweist dabei auf Einschränkungen der Meinungs-, Forschungs- und Versammlungsfreiheit sowie auf eine Schwächung des Verfassungs- und Justizsystems und das Vorgehen der Regierung gegen Nichtregierungsorganisationen. Darüber hinaus nennt sie Verstöße gegen die Rechte von Minderheiten und Flüchtlingen sowie Korruption und Interessenkonflikte.

Links: