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„Alle Medien pfeifen ein Lied“

Migration war das einzige Thema, das im Wahlkampf des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban eine Rolle gespielt hat. Am Sonntag bestimmt Ungarn ein neues Parlament, an der politischen Kräfteverteilung dürfte sich - trotz einer allmählich kippenden Stimmungslage im Land - wenig ändern.

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Zu Mittag zeichnete sich eine höhere Wahlbeteiligung als vor vier Jahren ab. Bis 11.00 Uhr MESZ gaben am Sonntag 29,9 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, sieben Prozentpunkte mehr als im Jahr 2014 zur gleichen Zeit, wie die Wahlbehörden mitteilten. Eine hohe Wahlbeteiligung spricht eher gegen das Erreichen einer Zweidrittelmehrheit für Orban.

Orban blickt mit seiner FIDESZ-Partei nach 2010 und 2014 aber jedenfalls dem dritten Wahlsieg in Folge und seiner vierten Amtsperiode als Premier entgegen. 1998 wurde er erstmals als Ministerpräsident vereidigt - mit 35 Jahren als bisher jüngster in der Geschichte Ungarns. 2002 wurde er überraschend abgewählt, 2010 errang er mit 53 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Diese nutzt Orban seitdem ungehemmt, um den Staat nach seinen Vorstellungen umzugestalten, kritische Stimmen werden marginalisiert.

Richtlinien für Nachrichtenmeldungen

"Bei öffentlich-rechtlichen Medien wurden etwa 1.000 Menschen entlassen. Man hat die staatlichen Medien konzentriert, es pfeifen alle ein Lied“, sagte Journalist Stephan Ozsvath, Autor des im Herbst erschienenen Buches „Puszta-Populismus. Viktor Orban - ein europäischer Störfall?“. Es gebe sogar Richtlinien für den Aufbau einer Nachrichtenmeldung: Am Anfang und am Schluss müsse die FIDESZ vorkommen, die Opposition dürfe nur in der Mitte erwähnt werden.

Hunderte Demonstranten protestieren gegen den ungarischen Premier Orban

Reuters/Bernadett Szabo

Die ungarische Gesellschaft ist tief gespalten, der Widerstand gegen Orbans Führungsstil wächst

Ausgehöhlter Rechtsstaat

Menschenrechte, Pressefreiheit und Demokratie werden zunehmend ausgehöhlt, das Verfassungsgericht etwa darf Gesetze nur noch formal prüfen, nicht aber auf ihren Inhalt hin. Die Günstlingswirtschaft grassiert, im Korruptionswahrnehmungsindex 2017 von Transparency International rangiert Ungarn nur mehr auf Rang 66, ex aequo mit dem Senegal, knapp vor Weißrussland. „Mehrere Beispiele in den letzten Jahren zeigen, dass diejenigen, die in Ungarn an der Macht sind, öffentliche Gelder als ihre eigenen betrachten“, schrieb die Organisation.

Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge haben Firmen von lediglich zehn aus dem Orban-Umfeld stammenden Geschäftsmännern seit 2010 öffentliche Aufträge im Wert von rund 6,4 Milliarden Euro gewonnen. In mehreren Provinzstädten sollen die Ausschreibungen für die Montage neuer Straßenlampen zugunsten der Beleuchtungsfirma Elios von Orbans Schwiegersohn Istvan Tiborcz maßgeschneidert worden sein. Die EU-Betrugsbehörde OLAF forderte inzwischen 43 Millionen Euro an Fördergeldern von Budapest zurück.

Verschwundene Fördermilliarden

Erst diese Woche berichtete die Zeitung „Magyar Nemzet“ von einem weiteren schweren Korruptions- und Geldwäscheskandal: Die Regierung Orban soll in den vergangenen Jahren drei bis vier Milliarden Euro EU-Fördermittel unterschlagen und von Ungarn auf arabische und asiatische Konten transferiert haben. Als Zwischenstopp habe Wien gedient, behauptete das FBI, das sich in die Ermittlungen eingeschaltet hatte.

Ungarischer Premier Orban

Reuters/Marko Djurica

Migration, beziehungsweise die Angst davor, war im Wahlkampf Orbans das alleinige Thema

Einen Rückschlag musste der erfolgsverwöhnte Premier zuletzt auch an den Urnen hinnehmen: Entgegen allen Umfragen gewann im Februar der unabhängige Kandidat Peter Marki-Zay, der von den wesentlichen Oppositionsparteien unterstützt wurde, die Bürgermeisterwahl in der südostungarischen FIDESZ-Hochburg Hodmezövasarhely. Eine weitere Blamage fügte der stellvertretende Staatssekretär im Außenministerium, Kristof Altusz, Orban zu, als er Anfang des Jahres in einem Zeitungsinterview einräumte, Ungarn habe im vergangenen Jahr „heimlich“ 1.300 Flüchtlinge aufgenommen.

Soros’ vermeintliches Komplott

Die oppositionellen Sozialisten (MSZP) höhnten damals, der Ministerpräsident habe damit letztlich den von ihm verfluchten „Soros-Plan“ erfüllt - Orban vertritt die krude Vorstellung, wonach der jüdisch-ungarischstämmige US-Milliardär George Soros mit einer „globalistischen Elite“ unter einer Decke stecke. Diese sei darauf aus, Ungarn und Europa durch Masseneinwanderung zu zerstören. Soros’ angebliches Ziel sei es, die Völker des alten Kontinents ihrer „christlichen und nationalen Identität“ zu berauben.

Die Theorie dient Orban auch zur Diffamierung von regierungskritischen Zivilorganisationen - viele von ihnen werden von Soros unterstützt. In der Diktion Orbans sind die Aktivisten der Zivilorganisationen „Soros-Söldner“. 2.000 von ihnen seien der Regierung „namentlich“ bekannt, sagte Orban kürzlich im staatlichen Rundfunk. „Wir wissen genau, wer daran arbeitet, Ungarn zu einem Einwanderungsland zu machen, und wie er das tut.“

„Schmutziges“ Favoriten

Als abschreckendes Beispiel verbreiten regierungsnahe Medien Propaganda über die „Zustände“ in Städten mit verhältnismäßig vielen Zuwanderern. Auch Wien musste dabei als Negativbeispiel herhalten: Ein Facebook-Video von Kanzleramtsminister Janos Lazar von der „durch Migranten schmutzig und gefährlich gewordenen“ Favoritenstraße sorgte im März kurzfristig für bilaterale Verstimmung.

Dabei hat Ungarn weniger ein Problem mit Zu-, als mit Abwanderung: In den vergangenen Jahren sind Hunderttausende Bürger in andere EU-Länder ausgewandert. Allein die Zahl der Ungarn, die sich in Österreich gemeldet haben, stieg von 17.500 im Jahr 2007 auf 70.500 zehn Jahre später.

Stimmung scheint zu kippen

Die rigorose Haltung zur Zuwanderung, die allgegenwärtige Korruption, Orbans Eingriffe in das Justizsystem sowie die Beschneidung von Presse- und Meinungsfreiheit stoßen auf wachsenden Unmut - nicht nur in der EU, auch in Ungarn selbst. FIDESZ dürfte dennoch ein Wahlsieg sicher sein, eine Zweidrittelmehrheit wie bei den vergangenen beiden Urnengängen ist aber nicht wahrscheinlich. Diese würde durch eine niedrige Wahlbeteiligung gefördert, die 2014 etwa rund 61,2 Prozent betrug. Umfrageinstituten zufolge müsste die Beteiligung bei 70 Prozent liegen, wollte die Opposition punkten und Proteststimmen gegen FIDESZ einsammeln.

Ungarn hat seit 1990 ein Mischsystem aus Verhältnis- und Persönlichkeitswahlrecht. Die Orban-Regierung hat allerdings im Zuge einer Wahlrechtsreform nicht nur das Parlament stark verkleinert und die Wahlkreise umgezeichnet, sondern auch die Stichwahl in den Einzelwahlkreisen abgeschafft. Die Oppositionsparteien müssten sich folglich schon vor dem Wahltag absprechen, wenn sie den FIDESZ-Kandidaten gefährlich werden wollen - wie das etwa in Hodmezövasarhely im Februar der Fall war.

Grafik zu Umfragewerten in Ungarn

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/EU/Zri Zavecz

Doch das ist nach wie vor ein unsicheres Szenario. Vor allem wird der Rückzug eigener Kandidaten zugunsten der Rechtspartei Jobbik mehrheitlich abgelehnt. Den sicheren Einzug in das Parlament sprechen Umfragen außer FIDESZ und Jobbik auch dem Bündnis MSZP-Parbeszed zu. Ob andere die Fünfprozenthürde schaffen, ist Analysten zufolge fraglich - noch nie habe es eine Wahl in Ungarn mit einem im Vorfeld so unsicheren Ausgang gegeben.

„Hochstapelnder Gangster“

Orban scheint jedenfalls alarmiert zu sein - bei der Abschlusskundgebung des Wahlkampfs seiner Partei am Freitag beschwor er erneut eine „Schicksalswahl" herauf. Parteien, die fremden Interessen dienen, und Politiker, die in fremdem Sold stehen, wollen regieren und Ungarn zum Einwanderungsland machen“, sagte Orban. Die „alchemistischen Labore“ der EU, der UNO und von Soros würden bereits Pläne auskochen, um im Falle eines Wahlsiegs der Opposition „noch in diesem Jahr 10.000 Migranten in Ungarn anzusiedeln“. Nur er und ein von FIDESZ dominiertes Parlament seien in der Lage, das zu verhindern.

Auf der Veranstaltung zum Wahlkampfabschluss des linken Wahlbündnisses der Sozialisten und Parbeszed bezeichnete der Spitzenkandidat Gergely Karacsony wiederum Orban als einen „hochstapelnden Gangster“ und forderte die Bürger auf, mit „Herz und Verstand“ zu wählen. In den Wahlkabinen sei die „Lügenpropaganda“ von FIDESZ nicht zu hören, dort bräuchten die Bürger keine Angst zu haben.

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