Geständnisse ans Publikum
Im Theater gibt es den Kunstgriff des „Beiseitesprechens“: Die Figuren treten dazu aus der Handlung heraus und wenden sich ans Publikum. „Was hätte ich denn tun sollen?“, fragen sie oder gestehen Angst, Neid und Einsamkeit. Solche Momente setzt auch Craig Gillespie in seiner Filmbiografie „I, Tonya“ geschickt ein, um die „Wahrheit“ hinter der Geschichte der „Eishexe“ Tonya Harding zu beleuchten.
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Jüngeren Menschen sagt der Name Harding heute überhaupt nichts mehr. Das war im Frühjahr 1994 anders. Damals begann die Presse, die 23-jährige Eiskunstläuferin mit einem Attentat auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan in Verbindung zu bringen. Ein angeheuerter Schläger hatte Kerrigan kurz vor der US-Meisterschaft das Knie zertrümmert. Wie sich herausstellte, kam der Auftrag von Hardings Ehemann Jeff Gillooly. Aber hatte Harding selbst von der Sache gewusst?
„Eisprinzessin“ gegen „Eishexe“
Für die Medien war die Sache ein gefundenes Fressen. Zu schön war die Story um die „Eisprinzessin“ (Kerrigan) und die „Eishexe“ (Harding), die ihr den Sieg missgönnte. Schließlich hatte Harding schon immer als „White Trash“ gegolten, als Sportlerin, die hoch hinaus wollte, doch vom eigenen Milieu, dem kaputten Zuhause der Kindheit und dem eigenen, prügelnden Ehemann immer wieder hinuntergezogen wurde.

Thimfilm/DCM
Harding bei den Olympischen Spielen in Lillehammer 1994
Regisseur Gillespie arbeitet Hardings Kampf gegen dieses Milieu sehr plastisch heraus, wenn er etwa zeigt, wie die kleine Tonya mit ihrem Vater Kaninchen erschießt - ein typischer Redneck-Sport -, um anschließend ein schiefes Pelzjäckchen aus den Fellen zu nähen. Ihre Teamkolleginnen bekommen dieses Accessoire um teures Geld von den Eltern.
„Warum habe ich weniger Punkte?“
Mehrfach zeigt der Film, wie die halbwüchsige Tonya nach ihren Läufen zu den Preisrichtern kurvt und fragt: „Warum habe ich weniger Punkte? Ich bin doch besser gefahren!“ Und ja, zumindest Gillespies Film gibt ihr recht. Auch im echten Leben gelang Harding schon mit zwölf Jahren der extrem schwierige, dreifache Lutz, und später als erster Frau in der Geschichte des US-Eiskunstlaufs der noch riskantere, dreifache Axel.

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Harding mit Ehemann Jeff (gespielt von Sebastian Stan)
Doch bewertet, so will es der Film, wird sie immer wieder nur für ihre billig-blondierten Haare. Insofern ist „I, Tonya“ auch der Versuch, den Sportzirkus von seiner politischen Seite aufzurollen: Gibt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten der Tochter einer alleinerziehenden Kellnerin eine Chance?
Gelungenes Mutter-Tochter-Drama
Aber nicht nur als sozialkritische Milieustudie, auch als Mutter-Tochter-Drama ist „I, Tonya“ gelungen. Für ihre Rolle als ehrgeizige Eislauf-Mum LaVona Golden wurde Allison Janney zu Recht mit einem Oscar prämiert. Sie spielt im Film eine bitter gewordene Kettenraucherin, deren winzige Augen man hinter Fransenpony und Oversize-Brille sucht.
Mit LaVona, Hardings Mutter, steigt der Film auch in die Handlung ein. In einem fakedokumentarischen Interview rechtfertigt sie sich vor Reportern. Nur das Beste habe sie gewollt. Tonya sei sowieso besser gefahren, wenn man sie wütend gemacht habe. Aber die Medien hätten nur die Rabenmutter in ihr gesehen.
Was wurde aus Tonya Harding?
Solche fakedokumentarischen Passagen sind immer wieder in die Handlung des Films eingewoben, beruhen aber wiederum auf realen Videointerviews von 1994, die der Film gegen Ende aus dem Hut zaubert. Fakten und Fiktion tanzen in „I, Tonya“ Twist, und man lässt sich gern darauf ein, zumal der Film nicht so dumm ist, eine letztgültige „Wahrheit“ zu behaupten.

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Margot Robbie mit Regisseur Gillespie (2. v. r.)
Vielmehr macht er Lust, weiter zu recherchieren: Im Internet ist zu lesen, wie es mit Harding - im Film gespielt von der Australierin Margot Robbie - weiterging. Nach dem Prozess war Schluss mit dem Eiskunstlauf. Der Richter hatte Harding auf Lebenszeit aus dem Verband ausgeschlossen. Doch Eislaufen war alles, was die Schulabbrecherin gelernt hatte.
Boxerin, Schweißerin, Baumarktverkäuferin
Harding schlug sich daraufhin als Boxerin durch, die sich in Showkämpfen k. o. schlagen ließ, weil die Leute es so wollten. Laut „New York Times“ arbeitete sie auch als Schweißerin sowie als Baumarktverkäuferin und baute reichen Leuten Veranden vor deren Häuser.
Mittlerweile ist Harding zum dritten Mal verheiratet und hat einen siebenjährigen Sohn. Mit Gillespies Film steht sie jetzt erneut im Rampenlicht der Medien. Und man gönnt ihr wirklich, dass es ihr diesmal Glück bringt.
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Maya McKechneay, für ORF.at