Ermittler geben noch keine Details preis
Eine mysteriöse Vergiftung eines einstigen Doppelagenten sorgt in Großbritannien für Aufsehen und weckt Erinnerungen an die Ermordung des Kreml-Gegners Alexander Litwinenko. In der südenglischen Stadt Salisbury wurden am Wochenende zwei Menschen mit Verdacht auf Vergiftung durch eine „unbekannte Substanz“ in ein Krankenhaus gebracht und ringen seitdem auf der Intensivstation mit dem Tod.
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Nach Informationen des BBC und der Agentur PA handelt es sich bei dem Mann um den früheren russischen Geheimdienstoffizier Sergej Skripal, der als Offizier des Militärgeheimdienstes GRU für den britischen Geheimdienst spioniert hatte. Russland warf ihm nach seiner Enttarnung vor, für 100.000 Dollar seit den 1990er Jahren für den britischen MI6 spioniert zu haben. Bei der Frau handelt es sich um seine eigentlich in Russland lebende Tochter Julia.
Johnson warnt Moskau
Der britische Außenminister Boris Johnson brachte bereits die Verschärfung von Sanktionen gegen Russland ins Spiel, falls die Regierung in Moskau hinter der schweren Erkrankung des Ex-Doppelagenten stecken sollte. „Es könnte sehr gut sein, dass wir gezwungen sind, uns das Sanktionsregime und andere Maßnahmen erneut anzusehen, wenn sich der Verdacht bestätigt“, sagte Johnson am Dienstag im britischen Parlament. Außerdem drohte er mit einem politischen Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft, die im Sommer in Russland stattfindet.

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Außenminister Boris Johnson droht Moskau mit Sanktionen und einem Boykott der Fußball-Weltmeisterschaft
Der Kreml wunderte sich nicht über einen Verdacht Richtung Moskau. „Das hat ja nicht lange auf sich warten lassen“, sagte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow am Dienstag in Moskau. Das sei eine „tragische Angelegenheit“, aber Russland habe keine Informationen über die Hintergründe. Man sei aber gerne bereit, bei den Ermittlungen zu helfen.
Substanz unklar
Die beiden waren bereits am Sonntag bewusstlos auf einer Bank eines Einkaufszentrums von Passanten entdeckt worden. Um welche Substanz es sich möglicherweise handelte, ist noch immer unklar. Weder Skripal noch seine Tochter hätten sichtbare äußere Verletzungen gehabt, so die Polizei. In britischen Medien kursierten Gerüchte, es könnte sich um das Schmerzmittel Fentanyl handeln.

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Die beiden Personen werden im Spital von Salisbury mit Verdacht auf Vergiftung behandelt
Die Behörde sprach von einem „schweren Vorfall“, eine ganze Reihe von Behörden sei eingeschaltet worden. Noch sei nicht klar, ob eine Straftat vorliege. Auf Fernsehbildern waren Einsatzkräfte in Schutzanzügen zu sehen, die den Fundort der Verletzten reinigten. „Wir wollen den Menschen versichern, dass wir Vorfälle dieser Art extrem ernst nehmen“, hieß es in der Mitteilung der Polizei.
Behörden halten sich bedeckt
In der Nacht auf Dienstag schloss die Polizei im Rahmen der Ermittlungen eine Pizzeria in Salisbury „als Vorsichtsmaßnahme“. Die Behörden schlossen zwar anhand der vorliegenden Informationen eine Gesundheitsgefährdung aus. Dennoch wurde die Öffentlichkeit gebeten, Verdachtsfälle bei plötzlicher Erkrankung umgehend zu melden.
Die Behörden halten sich bisher extrem bedeckt, man wisse auch noch nicht mit Sicherheit, ob es einen kriminellen Hintergrund gibt. Der stellvertretende Chef der Metropolitan Police, Mark Rowley, sagte, der Fall sei freilich ungewöhnlich. Aber auch russische Einwanderer seien „nicht unsterblich“. Natürlich würden solche Fälle besonderes Medieninteresse hervorrufen und auch Verschwörungstheorien befeuern. Jetzt gehe es aber darum, die Fakten zu sichern.
In Russland wegen Hochverrats verurteilt
Die Identität des Mannes lässt die britischen Medien über einen Spionagethriller spekulieren: Der frühere hochrangige russische Agent war 2006 wegen der Spionage für Großbritannien verurteilt worden. Die Anklage vor dem russischen Militärgericht lautete damals Hochverrat. Skripal hatte sich schuldig bekannt und wurde zu 13 Jahren Haft verurteilt.

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Sergej Skripal soll sich in kritischem Zustand befinden (Archivbild)
Wiener Agentenaustausch mit „Modelspionin“
Vier Jahre später kam er im Rahmen eines Austauschs zwischen Russland und den USA frei: Der wohl größte Agentenaustausch seit dem Ende des Kalten Krieges war im Juli 2010 auf dem Flughafen Wien-Schwechat vollzogen worden.

AP
Agentin als Medienliebling
Anna Chapman wurde 1982 als Anna Kuschtschenko geboren. Nach einer Kurzehe mit einem Briten sammelte sie in den USA von 2006 bis 2010 Informationen für den russischen Geheimdienst.
Eine US-Maschine brachte zehn enttarnte russische Spione nach Österreich zum Weiterflug nach Moskau. Unter ihnen war Anna Chapman, die wegen ihres attraktiven Äußeren - und massenhaft veröffentlichten Privatfotos - besonders viel Interesse bei Medien auslöste.
Boulevardblätter auf der ganzen Welt brachten Geschichten über die Geschäftsfrau, die es in den USA als Immobilienmaklerin zu Reichtum gebracht hatte. In ihrer Heimat stieg die rothaarige Fernsehmoderatorin und Modedesignerin zur Prominenten auf. Dafür ließ Russland vier wegen Spionage verurteilte Häftlinge über Wien ausreisen - darunter eben Skripal und der Atomwissenschaftler Igor Sutjagin.
In Großbritannien niedergelassen
Skripal ließ sich in Großbritannien nieder. Eigentlich war angenommen worden, dass er eine neue Identität bekam. Allerdings berichten britische Medien, dass er 2011 in Salisbury ein Haus unter seinem richtigen Namen kaufte. Nach dem Tod seiner Frau habe er dort zunächst mit seinem Sohn und dessen Lebensgefährtin gelebt, sagten Nachbarn britischen Medien. Im Vorjahr soll der Sohn laut britischen Medien in Russland ums Leben gekommen sein.
Erinnerung an Litwinenko
Der Fall erinnerte an die Ermordung Alexander Litwinenkos im Jahr 2006. Damals hätten sich die Beziehungen zwischen Großbritannien und Russland deutlich verschlechtert. Litwinenko war an einer über einen Tee verabreichten Poloniumvergiftung gestorben, nachdem er in einem Londoner Hotel mit dem russischen Agenten Andrej Lugowoi und dem Geschäftsmann Dimitri Kowtun Tee getrunken hatte.
Auf dem Sterbebett machte Litwinenko den russischen Präsidenten Wladimir Putin für seinen Tod verantwortlich. Der Kreml hat das zurückgewiesen. Damals hatten die Ermittler zunächst Wochen gebraucht, um die Vergiftungsursache herauszufinden, die Aufarbeitung des Falles dauerte fast ein Jahrzehnt.
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