Polens Argumente zurückgewiesen
Polen dürfte im Streit mit der EU-Kommission über das Schlägern von Bäumen in einem der letzten weiträumigen europäischen Urwälder den Kürzeren ziehen: Zumindest hat der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), Yves Bot, am Mittwoch der EU-Kommission in ihrer Klage recht gegeben und dem Gericht empfohlen, Warschau wegen der Nichteinhaltung der EU-Naturschutzauflagen zu verurteilen.
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Im Großteil der Fälle folgen die EuGH-Richter der Rechtsmeinung des Generalanwalts. Mit dem Urteil wird in einigen Monaten gerechnet. Bot kam nun zum Schluss, Polen habe mit der Entscheidung, die Holzfällerarbeiten in dem Natura-2000-Schutzgebiet Bialowieza zu verdreifachen, gegen EU-Naturschutzauflagen und Vereinbarungen mit der Kommission verstoßen und diese „nicht erfüllt“.
Bot verwies in seiner Meinung darauf, dass die EU-Richtlinien vorschreiben, dass Mitgliedsstaaten die passenden Schutzmaßnahmen ergreifen, um die ökologischen Eigenschaften eines Naturschutzgebietes zu erhalten. Dass Warschau die Menge an Holz, das geschlägert werden darf, verdreifachte, beweise, dass die Regierung nicht die nötigen Erhaltungsmaßanhmen für Bialowieza getroffen habe. Das Argument Polens, die Schlägerungen erfolgten, um einen Borkenkäferausbruch unter Kontrolle zu bringen, wies Bot als nicht stichhaltig zurück, weil es unterschiedliche wissenschaftliche Auffassungen zur Abholzung in solchen Fällen gebe.

Reuters/Kacper Pempel
Jetzt werden geschlägerte Bäume noch aus dem Naturschutzgebiet abtransportiert
Greenpeace: Bestätigung für Umweltaktivisten
Lukas Meus von Greenpeace Österreich betonte in einer Aussendung, dass sich Aktivisten monatelang eingesetzt hätten. „Die Stellungnahme des Generalanwalts bestätigt, was sie schon lange sagen: Der ehemalige polnische Umweltminister Jan Szyszko hat das Gesetz gebrochen. Nun liegt es an dem neuen Minister Henryk Kowalczyk, die Entscheidung seines Vorgängers zu kippen und endlich die notwendigen Schutzmaßnahmen für einen der letzten Urwälder Europas zu treffen.“ Der gesamte Bialowieza-Wald müsse zu einem Nationalpark werden, forderte Meus.
Die rechtsnationale PiS-Regierung hatte im Vorjahr mit ihrer Entscheidung, Holzfällarbeiten in Bialowieza zu erlauben, für Entrüstung bei Umweltschützern gesorgt. Auch mehrmalige Mahnungen der Europäischen Kommission, Warschau verstoße im Naturschutzgebiet Bialowieza gegen mehrere EU-Normen, haben nichts genutzt. Die Kommission als jene Instanz, die EU-Staaten zur Einhaltung gemeinsamer Regeln anhalten muss, reichte schließlich im Sommer des Vorjahres Klage beim EuGH ein.
Schlägerungen vorerst ausgesetzt
Eine Eskalation in den - vor allem wegen der laut EU-Meinung grundrechtswidrigen Justizreform - ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Brüssel und Warschau ist auch im Fall einer Verurteilung nicht wahrscheinlich. Bereits im späten Herbst des Vorjahres gab es eine Art vorläufigen Vergleich, nach dem Polen die Schlägerungen weitgehend aussetzte.
Am Mittwoch gab sich die Warschauer Regierung einsichtig: Polen sei ein Rechtsstaat, der das Gutachten des EU-Generalanwalts achten werde, teilte das Umweltministerium mit. „Ich kann schon jetzt bestätigen, dass sich Polen an das endgültige Urteil des Gerichts zum Fall Bialowieza halten wird“, sagte Kowalczyk.

Greenpeace/Małgorzata Grundland
Im Naturschutzgebiet sind auch Wisente beheimatet
Aktivistinnen und Aktivisten mehrerer Umweltschutzorganisationen, darunter Greenpeace, hatten immer wieder protestiert und die internationale Aufmerksamkeit auf die Bedrohung für ein einzigartiges Biotop gelenkt. Der Wechsel an der Spitze des polnischen Umweltministeriums von Jan Szyszko, der sich im Streit weit aus dem Fenster gelehnt hatte, zu Henryk Kowalczyk dürfte ebenfalls für eine Entspannung sorgen. Sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen, wird es aber jedenfalls spannend, wie Warschau mit einer Verurteilung umgeht.
Mehrere Fronten
Polen liefert sich derzeit an mehreren Fronten mit der EU ein politisches Tauziehen. Vor allem Reformen im Justizbereich der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) haben aus Sicht der EU-Wächter das polnische Verfassungsgericht als Kontrollorgan eingeschränkt und den Rechtsstaat in Gefahr gebracht. Die Kommission leitete daher - erstmals in der EU-Geschichte - ein Rechtsstaatsverfahren ein, das die Einhaltung grundlegender demokratischer Vorgaben prüft.
Jahrhundertealte Bäume als Lebensraum
In Reaktion auf einen Borkenkäferbefall habe das polnische Umweltministerium die dreifache Menge an Holzschlägerung im Nationalpark Bialowieza in der Periode von 2012 bis 2021 erlaubt, führte die EU-Kommission in ihrer Klage an. Es seien auch Flächen inkludiert worden, in denen das Schlägern zuvor nicht erlaubt war. Damit sei die Entfernung „jahrhunderalter toter und sterbender Bäume“ - wichtiger Nährboden und Lebensraum für viele Pflanzen- und Tierarten - erlaubt worden.
Letztes Frühjahr habe auf dieser Grundlage die Entfernung toter und vom Borkenkäfer befallener Bäume auf einer Fläche von 34.000 Hektar begonnen, so die EU-Kommission, und das gefährde den natürlichen Lebensraum mehrerer Tierarten. Für Tierschützer ist das Argument des Borkenkäferbefalls ein Vorgeschobenes. Den Käferbefall könne der Wald selbst regulieren. Es gehe vielmehr darum, den Wald wirtschaftlich zu nutzen.
Natura-2000-Gebiet mit UNESCO-Schutz
Bei Balowieza handelt es sich um ein Natura-2000-Gebiet, und die UNO-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) erteilte den Weltnaturerbestatus aufgrund des damit verbundenen Schutzes. Ziel der Natura-2000-Gebiete ist es, länderübergreifend Schutz für gefährdete wildlebende heimische Pflanzen- und Tierarten in ihren natürlichen Lebensräumen zu gewähren. Auch Vogelschutzgebiete sind hier integriert. Das Natura-2000-Gebiet bietet Schutz für Arten und Lebensräume, die auf Altholzbestände, einschließlich Totholz, angewiesen sind. Für einige dieser Arten ist der Bialowieza-Wald das wichtigste bzw. das letzte verbleibende Gebiet in Polen.

Greenpeace/Małgorzata Grundland
Aus Naturschutzgründen dürfen Besucherinnen und Besucher sich nur auf vorgegebenen Routen in Bialowieza bewegen
EU warnte vor „irreparabler Schädigung“
Die Kommission hatte Warschau schon Ende April 2017 mit einem Verfahren in der Causa gedroht. Da die Abholzung bereits begonnen habe, bei der „unter anderem hundertjährige und noch ältere Bäume gefällt“ werden, drohe eine „gravierende irreparable Schädigung“, betonte damals die EU-Behörde. Der mittlerweile ausgewechselte polnische Umweltminister Jan Szyszko zeigte sich dagegen unbeeindruckt und sagte, sein Land habe „keine Angst, den Streit vor dem Europäischen Gerichtshof auszutragen“.

Greenpeace/Adam Lawnik
Bereits im Mittelalter war der Wald ein Jagdrevier für die polnischen Könige, später für die russischen Zaren. Außer von den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg, die schlägerten, wurden in Bialowieza kaum Bäume gefällt.
150.000 Hektar fast unberührte Natur
Der Wald von Bialowieza erstreckt sich über 150.000 Hektar entlang der Grenze zwischen Polen und Weißrussland. Ein Teil der Wälder ist Schutzgebiet und zählt zum Weltnaturerbe und Biosphärenreservat UNESCO. Menschliche Eingriffe sind dort nur sehr eingeschränkt erlaubt, Besucher dürfen sich nur auf bestimmten Routen bewegen.
Einzigartige Flora und Fauna
Die Artenvielfalt von Flora wie Fauna ist in dem polnisch-weißrussischen Waldgebiet einzigartig und erinnert laut der Website des deutschen Wissenschaftsmagazins „Spektrum“ „beinahe an den tropischen Regenwald“. Auf einen einzigen Baumriesen würden mehr als 200 weitere Pflanzenarten kommen. Etwa 3.500 Pilzarten hätten Wissenschaftler in dem Urwald gezählt.

Greenpeace/Adam Wajrak
In Bialowieza können Bäume noch auf natürliche Weise sterben und zahlreichen Tieren als Behausung und Futter dienen
Viele von ihnen seien auf Totholz spezialisiert. Insgesamt ist der Wald Heimat für mehr als 20.000 Tierarten – wegen des Wisente ist der Wald schon seit Langem geschützt. Neben Wildschweinen und Elchen leben auch Bären, Wölfe und Luchse in dem weitläufigen Gebiet. Dazu kommen 150 Vogelarten, darunter alle acht in Mitteleuropa heimischen Spechtarten.
Entwässerung als Problem
Der letzte in dieser Größe erhaltene Urwald in Europa ist aber auch von anderer Seite in Gefahr. Im Osten, auf der weißrussischen Seite, wurde bereits in den 1970er Jahren damit begonnen, die an den Wald angrenzenden Niedermoore trockenzulegen. Dazu wurden laut „Spektrum“ schnurgerade Entwässerungsgräben gezogen. Die Flächen dienen heute als Kuhweiden - die Milch wird nach Russland geliefert. Die Nachfrage ist aufgrund der EU-Sanktionen entsprechend hoch. Dabei würden Experten bereits beobachten, dass wegen der Austrocknung etwa statt Eichen vor allem Hainbuchen wachsen - und sich in der Folge auch die Fauna verändere.

Map Resources/ORF.at
In Weißrussland versucht man nun bereits, mittels Verschluss der langen Kanäle die Entwässerung zu verhindern und eine langsame Rückkehr der Niedermoore zu erreichen und die weitere Absenkung des Grundwasserspiegels zu stoppen.
Mühsamen Kompromiss aufgekündigt
Auf der polnischen Seite sind laut „Spektrum“ von 630 Quadratkilometern nur 105 streng geschützt. Der Rest sei bisher aber sehr zurückhaltend genutzt worden. Im Jahr 2012 wurde - von der EU vermittelt - ein Plan für die langfristige nachhaltige Nutzung der Wälder fixiert. Bei dem mühsam ausverhandelten Kompromiss wurde vereinbart, dass bis 2023 maximal 63.400 Festmeter Holz geschlägert werden dürfen.

Greenpeace/Adam Wajrak
Für Tiere ist das riesige, naturbelassene Waldgebiet ein Paradies
Die Zustimmung dazu war auch Voraussetzung für den Erhalt des UNESCO-Weltnaturerbestatus. Die 2016 in die Regierung gewählte PiS schlug sich aber im Ringen zwischen Naturschützern und Waldnutzern auf die Seite Letzterer und verdreifachte die Quote. Auch deshalb, weil die Quote bereits im Vorjahr fast aufgebraucht war. Vor allem erlaubte die neue Regelung auch, nicht nur einzelne Bäume zu fällen, sondern ganze Flächen zu schlägern. Zudem durften nun auch der Waldboden gepflügt und darauf Jungbäume aus der Baumschule gepflanzt werden. Im November vergangenen Jahres wurde aber ein vorläufiger Kompromiss zwischen Brüssel und Warschau erreicht. Seither ruhen die Holzfällerarbeiten.
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