Themenüberblick

Versuch’s mal mit Gemütlichkeit

Adalbert Stifter zu lesen bedeutet eine Abkehr vom Infohäppchenfluss des Web: Von der Exposition bis zur Handlung braucht er schon einmal so lange, dass man über der Beschreibung von Gräsern und Halmen die Hoffnung aufgibt, es könnte überhaupt noch etwas passieren. 150 Jahre nach seinem Tod könnte man darin eine Qualität sehen: Stifter als Prophet der heute so modernen „achtsamen“ Wahrnehmung.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Da ist zum Beispiel „Bergkristall“, eine der berühmtesten Erzählungen Stifters, erschienen 1845 unter dem Titel „Der Heilige Abend“. Sie handelt von einem Geschwisterpaar, das in der Heiligen Nacht im Gebirge von einem Schneesturm überrascht wird. Werden Bub und Mädchen die Eiseskälte in ihren dünnen Jäckchen überleben?

Gemächliche Landschaftsbetrachtung

Andere würden auf Spannung setzen. Nicht so Adalbert Stifter. Gut ein Drittel der Erzählung geht für die Exposition drauf, gilt es doch, jeden Grat, jede Senke, jedes Tal und jede Ortschaft, ja jeden Baum, jedes Marterl, das an den Tod eines Wanderers erinnert, und jeden Felsen atmosphärisch zu umreißen. Und zwar im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter.

Doch wer genau liest, erkennt die Gebirgslandschaft als Allegorie. Zwischen dem wohlhabenden - heute würde man sagen, versnobten - Millsdorfer Tal und dem ärmlicheren Gschaid-Tal schlagen die Kinder eine Brücke, indem sie die Bewohner zwingen, gemeinsam nach ihnen zu suchen. Landschaft als Darstellung der „sozialen Kluft“ und ihrer Überwindung.

„Ausschweifung der Revolution“

Ein Linker oder gar Sozialreformer war Adalbert Stifter trotz allem nicht. Den Vormärz verbrachte der Schriftsteller in Wien. Die Hungerrevolten, die damals losbrachen, erwähnt er in seinen Schriften ebenso wenig wie die Finanzkrise zur Jahreswende 1847/48. Vielmehr scheint ihn der Gedanken an einen Umsturz zu ängstigen. 1844 nennt er die „Grässlichkeit und Ausschweifung“ der Französischen Revolution einen Rückfall in längst vergangen geglaubte, barbarische Zeiten. Ihre Errungenschaften scheint er dagegen nicht zu sehen.

„Mann des Maßes“

In den Wirren, die der Revolution von 1848 vorausgingen, floh - noch vor dem Kaiser - Stifter aus der Stadt. Er verlegte seinen Lebensmittelpunkt ins beschauliche Linz, wo noch heute das „Stifter-Haus“ als Museum geführt wird. „Ich bin ein Mann des Maßes und der Freiheit“, schrieb er am 25. Mai 1848 in Hinblick auf die politischen Umwälzungen an seinen Verleger Gustav Heckenast. Heutige Biografen sind der Ansicht, der Aufstand von 1848 sei mit einer privaten Krise Stifters zusammengefallen, litt doch der Autor immer wieder an depressiven Schüben.

Adalbert Stifter

Geboren am 23. Oktober 1805 in Oberplan, Böhmen, zählt Stifter zu den bedeutendsten Autoren des Biedermeier. Viele seiner Erzählungen spielen im Mühlviertel, wo er auch als Landschaftsmaler unterwegs war. Kurz vor der Revolution 1848 übersiedelte Stifter aus den Wirren Wiens ins beschauliche Linz. Dort entstand sein Opus Magnum, der Bildungsroman „Der Nachsommer“ (1857). Am 28. Jänner 1868 nahm sich der an Leberzirrhose erkrankte Stifter das Leben.

Über den Wolken der Depression entfliehen

Um den Blick über den oft grau erscheinenden Alltag zu erheben, hielt es Stifter mit dem Liedermacher Rainhard Mey, der in den Siebzigern sang: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“. Immer wieder kletterte der ansonsten wohl nicht besonders sportliche Stifter auf den einen oder anderen Gipfel, um von oben leichteren Herzens die Welt zu betrachten.

Zur Not tat es auch der 484 Meter hohe Kahlenberg, von dem der Autor auf die schmutzige Dunstglocke über der Stadt Wien blickte und sich, auch 2018 durchaus zeitgemäß, fragte: „Warum doch die Menschen ihr einziges Nahrungsmittel, was sie ganz umsonst, ganz echt und in ungeheurer Menge haben können, selbst so geflissentlich verderben. Ich ginge augenblicks in die Berge, um dieses Nahrungsmittel recht zu genießen, wenn ich nicht leider in der Stadt bleiben müsste, um mir die andern zu erwerben.“

Pporträt von Adalbert Stifter

Public Domain

Stifter machte gerne selbstironische Witze über sein Aussehen

In den Katakomben unter Wien

Die Luft als Hauptnahrungsmittel der Menschen nahm Stifter nie als selbstverständlich. Für einen Essay tauchte er 1844 in die Katakomben unter dem Stephansplatz ein und schnüffelte dort beklommen den Moder der Leichen, die damals zu Hunderten ganz ohne Särge in den Gewölbegängen lagen. Auch hier, unter der Erde, weitete sich Stifters Blick vom Tagesgeschehen auf ein universelles Ganzes. Angesichts der verrenkten Glieder und starren, mumifizierten Gesichter zeigte er sich „bis in das Innerste erschüttert“.

Dann, als er wieder in den „feinen Novemberregen“ am Stephansplatz tritt, hebt sich seine Brust „freier in der frischen Luft“, und Stifter schließt mit einem Memento-mori-Moment: „Ich ging wie im schweren Traume nach Hause, während an mir vorüberhuschte der Strom des unbegreiflichen Lebens der Menschen.“

Pporträt von Adalbert Stifter

Public Domain

Stifter in der Mode der Zeit

Der „hässlichste“ Besucher der Wiener Salons

Gerade in Stifters Wien-Betrachtungen bricht aber auch sein schalkhafter Humor durch. So beschreibt der notorisch übergewichtige Autor die Eitelkeit der Salons im Jahr 1844, auf dem Höhepunkt des Biedermeier. Was sich als Treffen der Literatur- oder Musikliebhaber tarne, sei oft nur ein Schaufenster für „Kravatten, Fräcke, Handschuhe und Seidenpolster“. „In den Salons ist so gut Leere, Abgeschmacktheit, Lauheit, lange Weile wie in der Alpenlandschaft Kot, Steine und Morast“, resümierte Stifter.

Selbstironisch fügte der Mann mit dem buschigen Backenbart hinzu: „In solchen Salons werden auch gerne Herren gesehen, die schön sind. Ich kann aus Erfahrung von diesen Salons nicht viel sagen, weil ich, wenn mich das Glück in einen führte, immer der Hässlichste war und von der Pracht und den Reden rauschig wurde.“

Bernhards kenntnisreiche Stifter-Beschimpfung

Ja, man braucht Zeit und Geduld, um Stifter zu lesen. Peter Handke und Friedrich Nietzsche, die zu seinen größten Bewunderern zählen, nahmen sich diese Zeit. Und die Investition lohnt, um zu entdecken, dass der Autor mehr als der „harmlose Käfer- und Blumenpoet“ ist, als den ihn sein Zeitgenosse Friedrich Hebbel nach Erscheinen des „Nachsommers“ beschimpfte.

Das Stifter-Beschimpfen an sich hat auch schon wieder Tradition in der österreichischen Literatur - und zeugt letztlich nur davon, dass der Mann eine fixe Größe ist. Der Museumsbesucher Reger in Thomas Bernhards vorletztem Roman „Alte Meister“ ergeht sich immer wieder in Tiraden gegen den „schlampigen Dilettanten“ Stifter, was umso lustiger ist, als Bernhards exzessiver Gebrauch des Wörtchens „naturgemäß“, genau betrachtet auf eine Marotte Stifters zurückgeht.

Adalbert Stifters Bild "Mondaufgang"

Public Domain

Adalbert Stifters Bild „Mondlandschaft mit bewölktem Himmel“, um 1850

Von Bernhards Realitätenvermittler Karl Ignaz Hennetmair weiß man, dass Bernhard selbst lange auf den Stifter-Preis des Landes Oberösterreich gehofft habe, da er der Ansicht gewesen sei, dass seine eigenen Schriften zu denen Stifters „passten“. War die Beschimpfung also nur eine Pose? Bekommen hat Bernhard den Preis jedenfalls nicht. Faszination und Verachtung liegen hier „naturgemäß“ nah beieinander. Und so bleibt wohl auch 150 Jahre nach Stifters Tod alles beim Alten: Die einen lieben seinen meditativen Flow. Den anderen ist er einfach zu wenig radikal.

Links: