„Wir sind natürlich alle erleichtert“
Die SPD hat an ihrem Sonderparteitag in Bonn am Sonntag für Koalitionsgespräche mit der Union gestimmt. Das Ergebnis fiel knapp aus: 56,4 Prozent der 642 Delegierten stimmten für den Antrag. Die Verhandlungen über eine Neuauflage der Großen Koalition können damit in den nächsten Tagen beginnen.
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SPD-Parteichef Martin Schulz war nach dem Ja seiner Partei mit dem Ergebnis zufrieden: „Wir sind natürlich alle erleichtert“, sagte er dem Fernsehsender Phoenix. „Wir werden nach dieser harten Diskussion (...) versuchen, die Partei zusammenzuführen.“ Er werde auf die Kritiker zugehen. Wichtig sei, dass die Partei zusammenbleibt.

APA/dpa/Federico Gambarini
Martin Schulz warb am Sonntag für Verhandlungen mit der Union
„Schlüsselmoment“ in Geschichte der SPD
Vor der Abstimmung appellierte Schulz noch einmal an die Delegierten und sprach von einem „Schlüsselmoment in der jüngeren Geschichte“ der SPD. „Ich glaube, dass die Republik in diesem Moment auf uns schaut“, sagte er. „Ja, man muss nicht um jeden Preis regieren, das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.“
Sein schärfster Konkurrent, Juso-Chef Kevin Kühnert, hatte vor der Abstimmung dafür geworben, trotz weitreichender Folgen nicht vor einem Nein zurückzuschrecken. Der Leitspruch des Juso-Chefs für die Abstimmung: „Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.“ Damit spielte er auf eine Aussage des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt an, der den Jusos einen „Zwergenaufstand“ vorgeworfen hatte.
Parteiführung großteils für Gespräche
In der mehr als vierstündigen Debatte sprach sich eine knappe Mehrheit der etwa 50 Redner für eine Große Koalition aus. Die Befürworter kamen überwiegend aus der Parteiführung. Fast alle prominenten deutschen Sozialdemokraten sind für eine Große Koalition. SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles sagte in ihrer Rede, die Bürger würden der SPD einen Vogel zeigen, wenn sie sich trotz guter Sondierungsergebnisse für eine Neuwahl entscheide. In den Koalitionsverhandlungen könne noch mehr für die SPD herausgeholt werden. „Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.“
Parteispitze gab Richtung vor
Am SPD-Parteitag wurde für Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU gestimmt. Der Hauptgrund sei, dass sich die Parteispitze fast geschlossen dafür ausgesprochen hat, berichtete ORF-Korrespondent Andreas Jölli.
Nahles bekam für ihre kurze Ansprache deutlich mehr Beifall als Schulz, der eine Stunde redete. „Wir entscheiden heute letztlich auch darüber, welchen Weg unser Land und Europa gehen“, sagte der SPD-Vorsitzende. Die Partei müsse „ohne Angst, ohne Scheu“ Verantwortung übernehmen. „Ich bin davon überzeugt, dass der mutige Weg der richtige ist.“
Neuwahl wurde als einzige Alternative genannt
Eine Bundestagsneuwahl nannte Schulz im Vorfeld der Abstimmung als einzige Alternative zu Verhandlungen über eine Große Koalition. In den Sondierungsgesprächen habe man die Spitzen von CDU und CSU „sehr konkret“ gedrängt, „alternative Formen der Zusammenarbeit zu durchdenken und auch auszuprobieren“, so der Parteichef. „Sie sind dazu nicht bereit und auch nicht in der Lage.“
Seinen Kurswechsel in der Debatte über eine Neuauflage der Großen Koalition verteidigte Schulz während seiner Rede. „Das Mandat zur Regierungsbildung haben andere bekommen“, so Schulz. Deshalb sei seine Entscheidung, in die Opposition zu gehen, am Wahlabend richtig gewesen. Das Scheitern der Jamaika-Gespräche sei jedoch ein „Wendepunkt“ gewesen. Für ihn habe nie ein Zweifel daran bestanden, dass die SPD nach Auswegen aus dieser schwierigen politischen Lage suchen werde.
Landesparteien übten Druck aus
Auf Drängen der Skeptiker in den eigenen Reihen präsentierte die SPD-Spitze zusätzliche Forderungen, mit denen sie in die Verhandlungen mit CDU und CSU gehen will. Die Parteiführung legte einen Leitantrag für den Parteitag in Bonn vor, nachdem die mächtige SPD Nordrhein-Westfalen den Bundesvorstand unter Zugzwang gesetzt hatte.
Dazu gehöre etwa eine „weitergehende Härtefallregelung“ für den Familiennachzug von Flüchtlingen. „Da muss sich die Union bewegen. Und ich sage Euch ganz klar: Die Härtefallregel wird kommen“, so Schulz während seiner Rede. Er sprach auch Ergänzungen beim Thema Gesundheitspolitik an, etwa die unterschiedliche Behandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten: „Wir werden konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zweiklassenmedizin verlangen.“
SPD-Mitglieder müssen Koalitionsvertrag zustimmen
Zwar sei klar, dass man nicht wieder von vorne anfangen könne. Aber Sondierungsgespräche seien keine Koalitionsverhandlungen. „Wir werden bis zum letzten Verhandlungstag für ein Ergebnis kämpfen, mit dem wir mit gutem Gewissen vor unsere Mitglieder treten können.“ Die mehr als 440.000 SPD-Mitglieder stimmen am Ende der möglichen Verhandlungen über den Koalitionsvertrag ab.
Der SPD-Chef sagte Skeptikern in seiner Partei zu, im Falle einer erneuten Großen Koalition auf Augenhöhe mit der Union zu regieren. „Sollten wir uns am Ende dafür entscheiden, dass wir in eine Koalition mit der Union eintreten, dann (...) haben wir in dieser Koalition nicht den Anspruch, der Juniorpartner zu sein oder so eine Art Umsetzungsgehilfe“, sagte Schulz.
Zündstoff für Gespräche mit Union
Mit dem abgeänderten Leitantrag gibt es genug Zündstoff für die Verhandlungen mit der Union. CDU und CSU sind strikt gegen grundsätzliche Änderungen der 28-seitigen Sondierungsvereinbarung, auf die sich beide Seiten am 12. Jänner verständigt hatten. Noch am Sonntag wollten die Spitzengremien von CDU und CSU über das weitere Vorgehen beraten.
CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich am Abend zum Ergebnis der SPD. Sie begrüßte die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Sie strebe eine stabile Regierung an - das Sondierungspapier sei der Rahmen der Gespräche. Eine Vielzahl von Fragen sei jedoch noch zu klären. Es gehe jetzt darum, möglichst bald damit zu starten, so Merkel.
Andere CDU-Spitzenpolitiker schlossen ein deutliches Entgegenkommen aus. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier sagte, die Union werde die Kernpunkte der Sondierungen nicht noch einmal besprechen. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff betonte, im Sondierungspapier seien alle wesentlichen Felder sortiert worden. Er halte die Spielräume für „sehr gering“.
Skepsis bei anderen Parteien
Keine Freude mit dem Votum des SPD-Parteitags hatte die Linke. Die Partei bezeichnete die Entscheidung als „historischen Fehler“. „Es droht die endgültige Atomisierung der deutschen Sozialdemokratie“, sagte Parteichefin Katja Kipping am Sonntag in Berlin. Skeptisch äußerte sich auch FDP-Chef Christian Lindner. „Wenn die gesamte Führung für den Regierungseintritt wirbt, aber nur eine knappe Mehrheit des Parteitags folgt, ist das eine Hypothek“, sagte er.
Grünen-Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt lobte die intensive Parteitagsdebatte der SPD, konstatierte aber auch ihre Regierungsunlust. „@spdde hat hart und fair diskutiert. Respekt“, schrieb sie auf Twitter. „Von Aufbruch, von Leidenschaft, von Lust auf Regieren war wenig zu spüren. Schade.“ Die AfD bezeichnete die SPD-Entscheidung als „würdelos“ und „unglaubwürdig“. Die Sozialdemokraten hätten sich entschieden, ihren „trudelnden Blindflug“ in die Bedeutungslosigkeit fortzusetzen, sagte Parteichef Jörg Meuthen.
Erleichterung in Europa
In der EU wurde das Ja der SPD vorerst mit Erleichterung aufgenommen. Der französische EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici begrüßte am Sonntag auf Twitter „das Verantwortungsbewusstsein der SPD“. „Europa braucht eine Sozialdemokratie, die engagiert und konstruktiv ist“, schrieb der Sozialdemokrat Moscovici weiter. Nun müsse bei der SPD aber auch noch „die Basis“ durch fortschrittliche Vereinbarungen im Koalitionsvertrag mit der Union überzeugt werden.
Der Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Martin Selmayr, sprach von „sehr guten Nachrichten für ein vereinteres, stärkeres und demokratischeres Europa“. Selmayr verwies dabei auf die Debatte zur „Zukunft Europas“. Juncker und auch der französische Präsident Emmanuel Macron haben bereits umfangreiche Vorschläge für die Reform der EU und der Euro-Zone vorgelegt. Ohne eine neue deutsche Regierung sind hier aber kaum schnelle Fortschritte zu erwarten.
Der konservative EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani sprach am Sonntag im Kurzbotschaftendienst Twitter von „positiven Nachrichten für Stabilität“ in Europa. Deutschland sei „ein wichtiger Akteur dabei, den notwendigen Reformprozess“ der EU voranzutreiben. „Ein Schritt nach vorne für die Zukunft Europas“, twitterte der sozialdemokratische italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni. Schon im Vorfeld hatte Gentiloni für ein Ja der SPD geworben. In Italien steht am 4. März eine Parlamentswahl an, seiner sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) droht dabei laut Umfragen ein Debakel.
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