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Mit Helm und Humor

Zwischen mitfühlender und sentimentaler Erzählweise liegt im Kino oft nur ein schmaler Grat. Der Tragikomödie „Wonder“ gelingt der Balanceakt: Owen Wilson und Julia Roberts wirken in dieser Hollywood-Inszenierung erstaunlich bodenständig neben den jungen Kostars Izabela Vidovic (17) und Jacob Tremblay (12).

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„Hast du eigentlich mal über eine Schönheitsoperation nachgedacht?“, fragt Will seinen Sitznachbarn Auggie in der Highschool-Kantine. August Pullman, genannt Auggie, hat ein Gesicht, wie es kein zweites an der Schule gibt: Seine Augenwinkel sind nach unten gezogen, was ihn stets melancholisch wirken lässt, statt Ohrläppchen schauen tropfenförmige Hautsäcke unter dem blonden Haarschopf hervor - und der Rest der Gesichtshaut ist von Narben durchfurcht. „Gute Idee ... ist mir nie eingefallen“, sagt Auggie, macht eine Kunstpause und lacht. „Dude, was du siehst, ist ja schon das Ergebnis der OPs!“

Szene aus dem Film "Wunder"

2016 STUDIOCANAL GmbH.

Auggie (Jacob Tremblay) und sein Helm, der ihn vor unliebsamen Blicken schützt

Held mit Astronautenhelm

Auggie (Tremblay) ist der Held von „Wonder“ (deutscher Verleihtitel: „Wunder“), Stephen Chboskys Filmadaption des gleichnamigen Jugendbuch-Bestsellers der New Yorker Autorin und Illustratorin Raquel J. Palacio. Wegen eines seltenen Gendefekts drehen sich die Menschen auf New Yorks Straßen mehr oder weniger unauffällig nach dem Buben um. Oder noch schlimmer, sie machen „das Wegschau-Ding“ („that look-away thing“), wie Auggie es nennt, und tun so, als hätten sie ihn gar nicht bemerkt.

Manchmal trägt er im Freien seinen NASA-Astronautenhelm, Teil eines Kinderkostüms. Dann wenden sich die Menschen zwar noch nach ihm um, doch tun sie es lachend, halten ihn für exzentrisch, aber ansonsten für irgendeinen Zehnjährigen, der sich gern verkleidet wie zigtausend andere auch.

Tiefschwarzer Humor des Drehbuchs

Gemeinsam mit seiner halbwüchsigen Schwester Via (Vidovic) und den fast schon übermenschlich einfühlsamen Eltern Nate (Wilson) und Isabel (Roberts) lebt Auggie in einem Häuschen in einer der wohlhabenderen Gegenden New Yorks. Von der frühen Kindheit bis zu seinem zehnten Geburtstag wurde er von der Mutter, einer Kinderbuchillustratorin, zu Hause unterrichtet. 27 Operationen haben in diesen Jahren dafür gesorgt, dass so etwas wie ein Gesicht überhaupt erkennbar ist. Und nun wagt die Familie den großen Schritt. Augie soll eine öffentliche Highschool besuchen.

Szene aus dem Film "Wunder"

2016 STUDIOCANAL GmbH.

Mutter, Coach und beste Freundin: Isabel (Julia Roberts). Auggies aufwendiges Make-up ist für einen Oscar nominiert.

Um diesen Sprung ins kalte Wasser kreist die filmische Handlung - deren Tonfall trotz des augenscheinlich nicht gerade leichten Themas heiter ist. Diese Heiterkeit verdankt sich Auggies Geheimwaffe - oder eigentlich der des sympathischen Drehbuchs: einer guten Portion selbstironischen, gar nicht zimperlichen, ja oft tiefschwarzen Humors.

Multiperspektivische Erzählweise

Aber auch der Umgang der Eltern mit der Situation ist bewundernswert. Statt Auggie zu bemitleiden, nehmen sie ihn ernst und sehen die Situation als großes Ganzes, das nicht nur ihren Sohn, sondern alle um ihn herum betrifft: die Mutter, die wegen des Heimunterrichts und der vielen Krankenhausaufenthalte ihre Doktorarbeit nie fertig schrieb, den Vater, der nach einem Anruf kommentarlos von der Arbeit nach Hause rast, weil Auggie ein weiteres Fiasko an der Schule durchlitten hat. Und nicht zuletzt die Teenage-Schwester Via, die ihre eigenen Bedürfnisse, ihre Wut und Frustration, zurückstellen muss, seit der kleine Bruder auf der Welt ist.

Szene aus dem Film "Wunder"

2016 STUDIOCANAL GmbH.

Owen Wilson als Vater, der mit seinem Humor stets die Laune rettet

Wie die Romanvorlage bedient sich auch der Film „Wonder“ eines Kunstgriffs. Neben Augie selbst - der gleich zu Beginn in einem persönlichen Off-Kommentar zum Publikum spricht - lässt er auf die gleiche Weise auch dessen Familie zu Wort kommen. Diese multiperspektivische Erzählweise sorgt dafür, dass auch Vater, Mutter und Schwester, ja sogar deren scheinbar so oberflächliche beste Freundin Raum bekommen, ihre Gefühle und Gedanken zu äußern.

Überraschungserfolg am US-Boxoffice

So entsteht statt eines „Belangfilms“ das Porträt eines Beziehungsgeflechts, das in seinen besten Momenten wirklich etwas über die Tragfähigkeit von Freundschaft und Familie zu erzählen weiß. „Wunder“ ist ein handwerklich gut gemachter, geschickt erzählter, zugleich ernsthafter und gewitzter Familienfilm. Hollywood auf der Höhe seines Schaffens, könnte man sagen, und das US-Publikum hat es den Produzenten gedankt, indem der mit 20 Millionen Dollar budgetierte Film unerwarteterweise bisher mehr als ein Zehnfaches (knapp 250 Millionen Dollar) einspielte.

Tränensichere Empfehlung

Neben dem zwölfjährigen Kanadier Tremblay in der Titelrolle strahlen Roberts und Wilson als erwachsene Stars des Films, und man sieht ihnen gern zu, weil sie den Ball emotional flach halten: lieber ein bisschen weniger Drama als zu viel. Es reicht ja auch so, um selbst hartgesottenen Zusehern die eine oder andere Träne zu entlocken. Im Finale des Films lösen übrigens Freudentränen das „mitfühlende“ Weinen ab. Wer sich also für das eine oder andere nasse Taschentuch nicht schämt, dem sei „Wonder“ wärmstens empfohlen.

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