Themenüberblick

„Wie im Winterpalais anno 1917“

Junge Medienkonsumenten und -konsumentinnen könnten sich beim Anblick etablierter Medien in diesen Tagen die Augen reiben: Kaum ein Printtitel kommt hierzulande ohne „Hintergrund“-Berichte über den ORF aus. Und auch für die printerprobte Leserschaft darf man erinnern: Die Beschäftigung mit dem ORF ist das Lieblingsthema der heimischen Medien seit der Stunde des Staatsvertrages 1955.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Was heute die Aufregung über die Konkurrenz durch die „blaue Seite“, das war einst eine noch grundsätzlichere Debatte über Sinn, Unsinn und Gefahr des neuen jungen Mediums Fernsehen. Und diese wurde wahrlich emotional geführt, wie der nun herausgebrachte Großband zur Mediengeschichte „Die Macht der Bilder“ des ORF-History-Experten Andreas Novak und des Historikers Oliver Rathkolb zeigt. Nicht zuletzt war die Fernsehrevolution, die sich infolge des Rundfunkvolksbegehrens 1964 ereignete, eine, die - wie der Band auch eindrücklich zeigt - von prominenten heimischen Printleuten getragen war.

Zwei Revolutionen im TV-Bereich

Doch im Grunde waren es gleich zwei Revolutionen, die sich im Bereich des Fernsehens auf heimischem Boden in den 1950er und 1960er Jahren abspielten: Die eine handelt von der Erfindung einer eigenständigen Sprache und Dramaturgie für das Medium Fernsehen - die zweite von einer Befreiung der Berichterstattung von politischen Zwängen.

Zwei Bücher zur Mediengeschichte

ORF.at

Nicht nur die Ästhetik von Fernsehen hat sich im Lauf von 60 Jahren geändert, sondern auch die Präsentation von Mediengeschichten. Der erste Fernsehdirektor des ORF, Gerhard Freund, bediente 1961 nicht nur sprachlich andere Bilder.

Die Suche nach der Gestaltung

Das von Franziska Kalmar am 1. August 1955 präsentierte erste „Versuchsprogramm“ des österreichischen Fernsehens brachte neben einer filmischen Aufzeichnung der „Egmont“-Ouvertüre mit den Wiener Philharmonikern unter Wilhelm Furtwängler aus dem Belvedere eine Diskussion der wichtigsten Zeitungschefredakteure über Segen und Gefahren des neuen Mediums für die Zeitungslandschaft. An einem „grünen Tisch“ diskutierten damals mit dem Rundfunkprogrammdirektor Rudolf Henz die Journalisten Fritz Molden („Presse“), Oscar Pollak („Arbeiterzeitung“), Franz Gößl („Kleine Zeitung“) und Rudolf Kalmar („Neues Österreich“).

Franziska Kalmer im Jahr 1957

ORF

Franziska Kalmar: die erste Präsentatorin im österreichischen TV

So ganz sicher, ob es Segen oder Schaden bringen würde, war man sich nicht, wie die von ORF-Historiker Novak ausgewählten Zitatenschätze zeigen. Man hoffe, man werde von „Käsepropaganda und Haarwasserwerbung“ verschont bleiben, sagte „Arbeiter Zeitung“-Mann Pollak.

Wie lebendig ist es am „grünen Tisch“?

Die optische Anmutung der ersten großen Fernsehausstrahlung in Österreich skizzierte die „Arbeiterzeitung“ so: „Die ersten Bilder - mehr als zwei Personen sind auf dem Fernsehschirm nicht zu erkennen - sahen zwar aus wie eine Verschwörung im Winterpalais anno 1917, aber dann kämpften sich die Diskutanten von den Hemmungen frei.“

Die Macht der bewegten Bilder

Andreas Novaks Rückblick auf über 60 Jahre Fernsehgeschichte, die als Revolution begann; und sich ab den späten 1990er Jahren selbst auf eine neue Revolution einstellen musste.

Fernsehen und Zeitungen wollten, so versprach man sich damals, zusammenarbeiten. Wer allerdings noch nicht mit ihm Boot war: die Politik. Nach dem Ringen um die Gestalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit der Unabhängigkeit 1955 erkannte man erst mit dem Beschluss der Rundfunkreform 1966 unter der damaligen Regierung Josef Klaus (ÖVP), dass man sich dem dann auch besser verbreiteten Medium Fernsehen nicht entziehen konnte - und entsprechend eine Form von neuer Öffentlichkeitsarbeit aufziehen musste (auch wenn Medienarbeit unter dem SPÖ-Medienkanzler Bruno Kreisky nicht selten das Kanzlertelefon war).

Bilder aus dem Buch "Macht der Bilder"

ORF

Im Grunde vollzog sich die Revolution Fernsehen in Österreich in zwei Phasen: Suche nach den Möglichkeiten eines neues Mediums - und schließlich die journalistische Befreiung vom Parteienproporz

Für den früheren ORF-Generalintendanten Teddy Podgorski wurden „die zwölf Jahre zwischen 1955 und 1967“, wie er selbst in dem Band schreibt, „von der Mediengeschichtsschreibung stiefmütterlich behandelt“ - „zu Unrecht“, wie er hinzufügt. Zwar habe die Politik das Fernsehen anfangs kaum wahrgenommen und dann in den Fängen seiner Proporzhaltung gegängelt; eine Losung habe sich aber, auch dank Mithilfe der Zeitungen, schnell durchgesetzt: „Schwarze Welle - roter Schirm“.

Ein Fotoexperte als Bewegtbildmacher?

Für die Aufstellung des neuen Mediums seien, so erinnert Podgorski, zunächst zwei Schwarze in Stellung gegangen: Der schwarze Programmchef Rudolf Henz habe den Leiter des Schulfunks, Franz Gregora, mit der Entwicklung des Fernsehens beauftragt, „und zwar deshalb, weil er als Amateurfotograf im Radio eine Fotosendung machte“.

Als ein halbwegs taugliches Programmkonzept für das Fernsehen nötig wurde, habe man den sozialistischen Gewerkschafter Gerhard Freund geholt, erinnert sich Podgorski. Auch dieser habe als Schauspieler Leute zusammengetrommelt, die wie er selbst keine direkte Fernseherfahrung vorzeigen hätten können, die aber diverse Kenntnisse der Berichtsdramaturgie von Wochenschauen zusammengetragen hätten, als man in einem kleinen Studio einer ehemaligen Volksschule in Wien Meidling „Die Zeit im Bild“ zur Welt brachte.

Club 2 im Jahr 1988

ORF

Eine Gründung der 70er Jahre: Der legendäre „Club 2“ mit der braunen Ledergarnitur

Fernsehen in „Proporzistan“

„Bewertet man die politische Kultur eines Landes auch am Umgang mit den Medien“, schreibt Novak in seinem Beitrag über „Proporzistan“, „so zeigt sich deren mangelnde Ausprägung in diesen Jahren; die große Koalition tat zwar vieles zum Wohl der Bürger, aber zu wenig zu deren Aufklärung.“ Fragen an die Politiker, die sich tunlichst dem Medium Fernsehen entziehen wollten, habe man zuerst vorgelegt, die Antworten wiederum seien dann meist vom Blatt heruntergelesen worden, hielt einst Helmut Zilk die Usancen der damaligen Zeit fest.

ORF-Stadtgespräche mit Helmut Zilk im Jahr 1967

ORF

Legendär und mit weltpolitischer Wirkung Ende der 60er Jahre: Die „Stadtgespräche“ von Helmut Zilk

Alles sollte sich ändern mit dem von Zeitungen und prominenten Chefredakteuren wie etwa Hugo Portisch angetriebenen Rundfunkvolksbegehren, das 1964 trotz zahlreicher Behinderungen von über 800.000 Menschen unterschrieben wurde - und das schließlich unter der Regierung Josef Klaus nach 1966 in einem neuen ORF-Gesetz mündete. Damals mitgetragen von der FPÖ - die SPÖ fürchtete, wie Historiker Rathkolb an die Worte des damaligen SPÖ-Generalsekretärs Heinz Fischer erinnerte, die Reform des Rundfunks habe nur den Zweck, Freund als TV-Direktor zu entfernen und „künftig den Sozialisten grundsätzlich den Weg zu Rundfunk und TV zu versperren“.

Robert Hochner moderiert die ZiB2 im Jahr 1988

ORF

Robert Hochner: der legendäre Anchor und das berühmte „ORF-Auge“ von Erich Sokol

Die zweite Revolution

Tatsächlich war der neue Generalintendant Gerd Bacher gerade einmal 24 Stunden im Amt, sah sich die alte ORF-Führung, darunter Freund, abgesetzt und durchwegs durch Printkollegen ersetzt. Statt Freund wurde schließlich Zilk neuer Fernsehdirektor. Alfons Dalma, Alfred Payerleitner oder auch Franz Kreuzer - sie alle kamen von Zeitungen in den ORF, ein Umstand, den der damals bereits zwölf Jahre für den ORF arbeitende Podgorski süffisant kommentiert: „Man hätte verzweifeln müssen, wenn Leute plötzlich das Sagen hatten, die nicht wussten, dass der Film am Rand zwei Löcher hatte.“

Buchhinweis

Andreas Novak, Oliver Rathkolb: Die Macht der Bilder. 50 Jahre Rundfunkreform, Kral Verlag, 720 Seiten, 49,90 Euro.

Podgorski hält für die Übergangsphase in die neue Zeit, die nun endlich den Journalismus in die Redaktionsräume des ORF brachten, fest, dass bereits in den Jahren zuvor der Grundstein für die Gestaltungssprache und die Gesetzmäßigkeiten des Fernsehens gelegt worden sei.

Ein Teil davon waren auch die „Stadtgespräche“, die bereits ab 1963 ausgestrahlt wurden - und die, durch das Zusammenwirken von Zilk und dem damaligen tschechoslowakischen Informationsdirektor Jiri Pelikan, eine nicht unerhebliche Rolle für die gesellschaftliche Öffnung in der CSSR und schließlich für den „Prager Frühling“ spielten. Die weltpolitischen journalistischen Erprobungen für den ORF sollten schließlich gerade im Jahr 1968 schlagend werden.

ORF im Brennpunkt medienpolitischer Debatten

Wer jedenfalls der Meinung ist, der ORF stehe heute wie nie im Mittelpunkt politischer und medialer Debatten, kann mit dem Band von Novak und Rathkolb, der alle Meilensteine im Sendungsbereich des ORF bis zur Gegenwart beinhaltet und auch noch die Auswirkungen der Onlinerevolution in den Blick nimmt, zu einem Schluss kommen: Das Tauziehen um den ORF begleitet das Unternehmen seit seiner Geburtsstunde.

Das Bewegtbild im neuen Medium

Hermann Maiers Sturz in Nagano im Frühjahr 1998 war einer der ersten großen Belastungstests für die Verbreitung von Videos im neuen Medium Internet in Österreich.

Wer freilich heute mit dem Fernsehen ein große, aufwendige Maschinerie und prominente Produktionsorte verbindet, den erinnert der Band „Die Macht der Bilder“ daran, dass auch die größten Medien in Hinterzimmersituationen oder vernetzten Kleinstrukturen entstanden. Ein Umstand, der dann doch die TV-Revolution mit der digitalen Revolution der 1990er Jahre verbindet.

Auch das Fernsehen musste sich als Elitemedium für wenige sein Massenpublikum erst sichern. Und die ersten Landmark-Sendungen mit größeren Zuseherquoten erinnern bei der Durchsicht des Bandes auch daran, dass die ersten massenbewegenden Videos im jungen Medium des Internets bis heute herausstechen. Jedem Medium sein Anfang, jeder Zeit ihre Medien - und jedem Anfang auch ein Zauber und ein Mythos über die Momente, die sich über ein neues Medium im kollektiven Gedächtnis eingraben. So wie Maiers Sturz in Nagano, der 1998 alle Dimensionen sprengte, was man an Videoverbreitung via Internet anno dazumal kannte.

Links: