Ein Film, wie es in bisher noch nicht gegeben hat: Der technische Aufwand ist „Loving Vincent“ in jeder Sekunde anzusehen. Doch während der manische Fluss der Farben das Publikum von Beginn an mitreißt, bleibt die großteils aus den Briefen des Malers konstruierte Kriminalstory hinter der großen, formalen Geste zurück.
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Deja-vus, also Momente des unheimlichen Wiedererkennens, erlebt man ständig in „Loving Vincent“. Da ist zum Beispiel der Mann mit dem roten Bart, der weißen Kappe und den strahlend blauen Augen. Irgendwo hat man ihn doch schon gesehen - denn es handelt sich um ein berühmtes Gemälde Vincent van Goghs, das hier zum Leben erweckt wird: Ein Porträt des Arztes Dr. Gachet, der den psychisch angeschlagenen Maler in seinen letzten Monaten behandelte. Das Original aus dem Jahr 1890 hängt im Musee d’Orsay in Paris, eine zweite Version des Motivs erwarb ein privater Sammler in den 1990ern für umgerechnet über 70 Mio. Euro.
Die Suche nach dem Schuldigen
Der Film teilt diesem Dr. Gachet (dargestellt von Jerome Flynn und anschließend übermalt) eine Schlüsselrolle zu, die Drehbuchautoren werfen sogar die Frage auf, ob der Arzt für van Goghs Tod verantwortlich war. Eifersucht könnte ein Motiv gewesen sein, war doch Dr. Gachet selbst ein gescheiterter Maler, aber auch Sorge um seine Tochter, mit der van Gogh als Hausgast bei den Gachets angebandelt haben soll.
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Die „übermalte“ Schauspielerin Saoirse Ronan als Arzttochter Marguerite Gachet, in die van Gogh vielleicht verliebt war
Als Belege für die meist fiktive Kriminalstory dienen Hunderte Briefe des auch literarisch begabten Malers. Er schrieb sie großteils an seinen jüngeren Bruder, den Kunsthändler Theo van Gogh (im Film gespielt von Cezary Lukaszewicz), der ihn jahrelang finanziell unterstützte. Diese Briefe nehmen die Regisseure, das britisch-polnische Ehepaar Dorota Kobiela und Hugh Welchman als Basis, um der Frage nachzugehen: Nahm sich van Gogh tatsächlich selbst das Leben? Oder hielt jemand anders die Pistole, aus der sich der tödliche Bauchschuss löste?
Vincent van Gogh (1853-1890)
Der niederländischer Künstler gilt als einer der Begründer der modernen Malerei. Aus seiner nur zehnjährigen Schaffensperiode stammen 864 Gemälde und über 1.000 Zeichnungen, die sich zu Lebzeiten schlecht verkauften, heute aber Rekordpreise auf Auktionen erzielen. Viele Werke entstanden in Auvers-sur-Oise, wo der psychisch angeschlagene Maler in seinen letzten Lebensmonaten Unterschlupf fand. Am 29. Juli 1890 nahm er sich dort 37-jährig das Leben.
Ewiges Rätsel
Lösen lässt sich das Rätsel wohl nicht mehr. Aber dem Film liefert es einen Angelpunkt, an dem sich all die Gespräche und Begegnungen bündeln, aus denen sich die mitunter etwas sprunghafte Handlung zusammensetzt. Diese Handlung wurde anschließend mit realen Schauspielerinnen und Schauspielern vor einem neutralen Green-Screen-Hintergrund verfilmt. Die so entstandenen Szenen zerlegte man wieder in Einzelbilder, die auf Leinwand projiziert und von 125 Malerinnen und Malern „im Stil van Goghs“ übermalt wurden. Aus diesen insgesamt 65.000 Neo-van-Goghs setzten die Filmemacher schließlich wieder die animierten Bewegungssequenzen des Films zusammen.
Tabubruch oder gelungener Remix?
Gerade zu Beginn des Films, wenn der Effekt noch neu ist, stellt sich beim Zusehen skeptisches Unbehagen ein. Gemälde, die man aus dem schulischen Kunstunterricht kennt, beginnen zu atmen, zu blinzeln und sogar zu sprechen. Darf man so mit Meisterwerken umgehen? Ist das ein gelungener Remix oder vielleicht doch eher ein Angriff auf die Aura des Originals?
Da ist zum Beispiel eine Skizze, die van Gogh während seiner Pariser Lehrjahre von seinem Künstlerkollegen Gaugin anfertigte. Im Kinosaal blinzelt sie von der Leinwand und beginnt in beiläufigem Tonfall Englisch zu sprechen: „Beruhige dich, Vincent!“ („Calm down, Vincent!“). Doch irgendwann gewöhnt man sich an den ständigen „Tabubruch“ und akzeptiert, dass in diesem Film Werke auf einer neuen, traumartigen Ebene mit ihrem Schöpfer kommunizieren.
Irgendwann zerstreuen sich im Strudel der Farben und plastischen Pinselstriche die anfänglichen Vorbehalte dann komplett: Alles zittert, bebt und fließt, und das Schauen macht viel zu viel Spaß, um weiter zu zweifeln.
In Öl gemalte „Film-Stills“ von 1890
Dabei ist dieser Film im Grunde durchaus konventionell erzählt: Rückblenden sind in Schwarzweiß gestaltet, Gespräche in klassischen Schuss-Gegenschuss-Konstruktionen aufgelöst und Stimmungen werden durch Streicherarrangements betont. Aber wahrscheinlich wäre es zu viel gewesen, formal auch noch zu experimentieren, und die Grenzen des Mediums Kino gleich mitsprengen zu wollen.
Alles in allem ist „Loving Vincent“ jedenfalls eine Erfahrung, die man im Kino gemacht haben sollte. Ein Film, wie es ihn bisher noch nicht gab. Wer ihn sieht, muss allerdings in Kauf nehmen, dass er die Gemälde, die im Film vorkommen, nicht mehr unbefangen wird betrachten können: Auch im Museum werden sie den Kriminalfall aus „Loving Vincent“ in Erinnerung rufen. Als Film-Stills, sozusagen, die bereits ein Jahrhundert vor dem Film existierten.