Ein Weihnachtssong, der textlich in der Ausnüchterungszelle beginnt, hat im Normalfall nicht unbedingt Hitpotenzial. Dennoch: „Fairytale of New York“ von The Pogues wird von den Briten regelmäßig zum beliebtesten Weihnachtslied gewählt. Auch hierzulande gilt der Song als Klassiker – und das, obwohl er von den Tiefen und Untiefen des Lebens handelt und nicht von Schlittenfahrten, Mistelzweigen und großen Kinderaugen.
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Die Gedanken in der Ausnüchterungszelle sind der Anfangspunkt der Erinnerungen an eine Beziehung: Im Duett besingen zwei Liebende die Stationen ihrer Beziehung, festgemacht an Weihnachtsabenden: Küssend und tanzend werden zunächst die Träume beschworen, die alle wahr werden sollen. Nur: Sie werden nicht wahr. „Frohe Weihnachten, du Arsch, ich bete zu Gott, es ist unser letztes“, heißt es in der vorletzten Strophe. Dennoch ist am Ende nicht alle Hoffnung verloren. „Du hast mir meine Träume genommen“, singt Gaststar Kirsty MacColl. „Ich hab sie behalten“, antwortet Pogues-Sänger Shane MacGowan, „und zu meinen gesteckt.“
Folk, Punk und Weihnachten
Ende November 1987 erschien der Song – mit einer zwei Jahre langen und durchaus turbulenten Entstehungsgeschichte davor. Im Sommer 1985 gelang den Pogues mit ihrem zweiten Album „Rum Sodomy & the Lash“ der Durchbruch, ihre Mischung aus irischem Folk und Punk schlug ein. Gegründet wurde die Band in London, die meisten Bandmitglieder hatten bestenfalls irische Wurzeln. Laut der von Akkordionspieler James Fearnley verfassten Bandbiografie war es Manager Frank Murray, der einen Weihnachtssong - eine Coverversion von „Christmas Must Be Tonight“ von The Band - vorschlug. Es sei aber ein „furchtbarer Song“ gewesen, man beschloss, einen eigenen zu machen.
Erste Version zu kitschig
MacGowan wiederum erinnert sich anders: Er behauptet, Produzent Elvis Costello, der damals selbst schon gefeierter Musikstar war, habe gewettet, die Band könne kein Weihnachtslied zustande bringen. Banjo-Spieler Jem Finer wagte eine erste Songidee über einen seine Frau vermissenden Matrosen. Finers Frau redete ihm das als zu kitschig aus. Sie sei es dann gewesen, die das Thema des Songs vorgeschlagen habe, so Finer gegenüber der britischen Zeitung „i“: ein mit sich und seiner Liebe kämpfendes Paar.
Langes Feilen am Song
Finer schrieb die flotteren Teile des Songs, MacGowan an den langsameren und dem Text der Strophen. In einer ersten, Anfang 1986 aufgenommen Demoversion des Stücks spielt die Handlung noch in Irland, den weiblichen Gesangspart übernahm Bassistin Cait O’Riordan.
Unzufrieden mit dem Ergebnis, feilten Finer und MacGowan immer weiter an Text und Arrangement, New York wurde als Schauplatz ausgewählt. Fertig wurde der Sänger damit bei einem Aufenthalt in Malmö, als er an einer Lungenentzündung laborierte, so die BBC. Als Titel hatte Costello „Christmas Day in the Drunk Tank“ vorgeschlagen, musste aber auf MacGowans Einwand hin, dass das nicht gerade nach Hit klinge, klein beigeben. Den Titel „Fairytale of New York“ borgten sich die Pogues dann vom amerikanisch-irischen Schriftsteller J. P. Donleavy aus – inklusive Frage an den Autor um Erlaubnis.
Suche nach neuer Sängerin
Doch 1986 kam der weibliche Gesangspart abhanden: Bassistin O’Riordan heiratete Produzent Costello, und beide kehrten der Band den Rücken. Der neue Pogues-Produzent Steve Lillywhite hatte die Lösung parat – seine Ehefrau Kirsty MacColl könne doch singen, und das, obwohl wesentlich prominentere Frauen wie Chrissie Hynde von den Pretenders im Gespräch waren. Ein von MacColl im Heimstudio aufgenommenes Demo des Songs überzeugte MacGowan und den Rest der Band. Mit ihrer Unverwechselbarkeit habe sie den Song zu ihrem gemacht, sollte der Sänger später sagen.
Mit ihr als Sängerin schloss sich auch ein Kreis: Kirstys Vater, zu dem sie allerdings wenig Kontakt hatte, war Ewan MacColl - Schriftsteller, Politaktivist und Folkmusiker. Aus seiner Feder stammte „Dirty Old Town“, das die Pogues auf „Rum Sodomy & the Lash“ höchst erfolgreich gecovert hatten.
Nummer eins blieb verwehrt
Das Video wurde schließlich zu Thanksgiving in New York aufgenommen, Matt Dillon spielte eine Gastrolle, und Akkordeonspieler Fearnley agierte als Fingerdouble MacGowans am Klavier, der das Instrument gar nicht beherrscht. Dass überhaupt am Anfang ein Klavier zu hören ist, sollte laut Band eine Referenz auf US-Musik – und Tom Waits im Besonderen - sein. Die Nummer eins in den Weihnachtscharts war „Fairytale of New York“ nur in Irland vergönnt. In Großbritannien mussten sich die Pogues der Elvis-Coverversion „Always on My Mind“ der Pet Shop Boys geschlagen geben.
MacGowans Absturz
Schnell erreichten die Pogues Kultstatus, schnell setzte aber bandintern die Ernüchterung ein. MacGowan wurde 1991 ob seiner Suchtexzesse aus der Band geworfen, der Erfolg danach hielt sich in engen Grenzen, Jubel gab es nur, als The-Clash-Frontmann Joe Strummer fallweise live als Sänger einsprang.
Reuters
MacGowans Zähne - oder die Reste davon - waren fast ein Markenzeichen
1996 löste sich die Band auf, 2001 folgte die Wiedervereinigung - mit MacGowan. Es folgten vereinzelte kleine Konzerttouren, neues Material wurde nicht mehr veröffentlicht. 2012 drehte die Band ein letztes Konzertvideo in Paris mit „Fairytale of New York“ und mit Finers Tochter Ella als Duettpartnerin. 2014 war dann endgültig Schluss.
Neue Zähne als Medienhighlight
MacGowan startete schon kurz nach seinem Rauswurf einige Soloprojekte, war aber ob seiner Alkoholsucht – laut eigenen Angaben schon von Kindesbeinen an – in den vergangenen Jahren eher ein Pflegefall, der von seiner Lebensgefährtin versorgt wurde. 2015 war er zuletzt größer in den Schlagzeilen, als ein britischer Pay-TV-Sender als Weihnachtsspecial eine Doku darüber brachte, dass der praktisch zahnlose MacGowan ein neues Gebiss erhielt. Die Zahnärztin nannte die Aufgabe den „Mount Everest für Dentisten“ und sprach von „bewegenden Szenen“, als der Sänger den ersten Apfel aß – nach 20 Jahren. Ausgerechnet am Christtag wird MacGowan heuer 60.
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Der Sänger bei einem Auftritt 2008
Bühnenangst verhinderte Starkarriere
„Fairytale of New York“ war für MacColl ihr größter Erfolg. Lediglich mit der Billy-Bragg-Coverversion „A New England“ ist sie ebenfalls bekannt. Den großen Durchbrauch schaffte sie nie, das war zum Teil ihrer Bühnenangst geschuldet. Eine Zeit war sie eine der gefragtesten Studio-Backgroundsängerinnen der britischen Popszene, ihre Soloprojekte blieben allerdings nur Achtungserfolge. Fans und Kritiker lobten sie nicht nur für die außergewöhnliche Stimme, sondern vor allem für ihre politischen und gewitzten Texte, immer wieder thematisierte sie etwa die Rolle von Frauen im Popbusiness.
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MacColl blieb großer Erfolg verwehrt
Tragisches Ende
MacColl starb 2000, als sie beim Schwimmen vor der mexikanischen Insel Cozumel von einem Motorboot erfasst wurde. Die Umstände des Unfalls wurden nie vollständig aufgeklärt, das Boot gehörte einem mexikanischen Supermarktmagnaten, der auch an Bord war. Den offiziellen Darstellungen nach lenkte ein Matrose das Boot mit geringer Geschwindigkeit. Er ging mit einer Strafe von umgerechnet rund 60 Euro frei.
Augenzeugen bestritten diesen Hergang, doch alle Bemühungen, den Fall aufzuklären, scheiterten. Auch eine 2005 mit der Neuauflage von „Fairytale of New York“ zur Finanzierung der Aufklärung gestartete Kampagne vermochte das nicht zu ändern. Der Song erreichte damals Platz drei in den britischen Charts. Seitdem ist das Lied jeden Dezember in den britischen Top 20, die Hälfte der Einnahmen geht seit damals an Obdachlose.
Kurze Zeit zu derb
Aufregung um den Song gab es kurz im Dezember 2007: BBC Radio 1 schienen die Schimpfwörter in der Streitstrophe zu derb, für einen Tag wurde der Song zensiert. Die folgende Debatte – unter anderem mit Protesten von MacColls Mutter - brachte den Sender binnen weniger Stunden zum Einlenken. Die Sprachpolizisten des US-Musiksenders MTV hielten mit der Zensur einiger Wörter länger durch, mangels Relevanz interessierte das aber kaum jemanden.