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Langsames Wachstum, schneller Ruin

Die Gründer des Club of Rome haben in den 70er Jahren ein Modell geschaffen, mit dem die „Grenzen des Wachstums“, die auf steigenden Ressourcenverbrauch zurückgehen, berechnet worden sind. Ugo Bardi, selbst langjähriges Mitglied des Club of Rome, entwickelt die Thesen des bahnbrechenden Werks weiter und legt mit seinem Buch „Der Seneca-Effekt“ seine neuen Studien zum Thema vor.

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Bardi interessiert sich besonders für den Zusammenbruch des antiken Römischen Reiches und die Übertragbarkeit dieses historischen Ereignisses auf die heutige Zeit. Den titelgebenden römischen Philosophen Seneca zitiert Bardi mit dem denkwürdigen Satz: „Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft.“ Seneca, im Jahre 4 vor Christus geboren, war zunächst einflussreicher Berater von Kaiser Nero und fiel später in Ungnade. Er sah den Zusammenbruch des Römischen Reiches weit vor seinem tatsächlichen Eintreten voraus.

Wenn man bedenkt, dass Rom im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gegründet wurde und im 2. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung den Höhepunkt seiner Machtentfaltung erreichte, kann man dem Römischen Reich einen rund tausend Jahre langen Aufstieg attestieren, dem ein nur zwei bis drei Jahrhunderte währender Verfall gegenübersteht – dieses Phänomen nennt Bardi den „Seneca-Effekt“. Doch warum kollabieren komplexe Systeme? Bardi unternimmt den Versuch, den „Seneca-Effekt“ anhand der gegenwärtigen Weltordnung zu prüfen.

Jahrestagung des Club of Rome in Berlin, 1974

picturedesk.com/dpa/Chris Hoffmann

Der legendäre Club of Rome bei einem Treffen 1974 in Berlin (von links nach rechts): Brigitte Freyh (Kuratorium Stiftung Entwicklungsländer), Professor Eduard Pestel (TU Hannover), Dr. Aurelio Peccei (Italien, Club-Vorsitzender) und Professor Mihajlo Mesarovic (USA)

„More of the same“ statt Wandel

Bardi geht der Frage nach, ob es denkbar wäre, dass das heutige Weltsystem aufgrund sich wechselseitig verstärkender Effekte einen mehr oder weniger abrupten Zusammenbruch erfahren könnte. Laut Bardi können in komplexen Systemen kleine Ursachen zu großen Auswirkungen führen. Das Problem sei, dass die moderne Industriegesellschaft, sobald sie in die Krise gerät, meist versucht, die Probleme, vor denen sie steht, durch Ausweitung ihrer Steuerungsstrukturen zu lösen – mit anderen Worten: Sie betreibt ein fatales „more of the same“, anstatt einen Wandel einzuleiten.

Als das Silber ausging

So kommt es unvermeidlich zu „Tipping Points“, also Kipppunkten, die es komplexen Gesellschaften enorm erschweren, auf eine Störung mit Anpassung zu reagieren. Ein wesentlicher Grund für den Zusammenbruch des Römischen Reiches lag darin begründet, dass die Bergwerke in Nordspanien das für die Münzproduktion notwendige Silber nicht mehr in den gewohnten Mengen liefern konnten. Die Kosten für die Kontrolle der beherrschten Territorien wurden zu hoch. Außerdem verschlang der Handel an der Seidenstraße große Mengen des begehrten Edelmetalls.

Cover des Buchs "Der Seneca-Effekt"

oekom verlag

Buchhinweis

Ugo Bardi: Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können. Oekom Verlag, 320 Seiten, 25,70 Euro.

Auf die Erschöpfung der Gold- und Silberminen folgte eine Kaskade von Rückkoppelungen, die weitaus spektakulärer waren als die Einflüsse, durch die sie verursacht wurden. Das Römische Reich erlebte politische Unruhen, interne Konflikte und den Zerfall seiner Armee. Bardi geht davon aus, dass uns dieser „Seneca-Kollaps“ eine Menge über die Schwierigkeiten lehren kann, vor denen unser derzeitiges Imperium, die globalisierte Welt unter westlicher Vorherrschaft, steht. Aufgrund der Tatsache, dass die moderne Welt so schnell gewachsen ist, könne sein Kollaps mit einem Paukenschlag eintreten, so Bardi.

Die Physik als philosophisches Exempel

Bardi nimmt den Leser in seinem Buch mit auf eine Reise durch die Materialwissenschaften und die Physik: Er erklärt Materialbrüche bei Schiffen und Flugzeugen. Wiederholte, vor allem zyklische Belastungen führen zur Schwächung der Struktur, zur Materialermüdung. Es entstehen Risse, die zunächst kaum sichtbar sind – der Bruch erfolgt oft heimtückisch und mit einem Schlag: Es ist der „Seneca-Ruin“ des Materials.

Die Erdbebengleichung

Bardi geht davon aus, dass sich der „Seneca-Effekt“ bei Materialbrüchen innerhalb gewisser Grenzen auch bei sozialen, wirtschaftlichen und biologischen Systemen beobachten lassen könne. Letztere würden nämlich ebenfalls den allgemeinen thermodynamischen Gesetzen gehorchen, woraus sich gewisse Regeln und Tendenzen ableiten ließen. Doch die Erkenntnisse aus der Physik würden uns in vielen Fällen auch darüber Aufschluss geben, was wir nicht wissen. So gäbe es bis heute weder eine Lawinen- noch eine Erdbebengleichung, die in der Lage wäre, zu bestimmen, wann und wo eine Lawine abgeht oder ein Erdbeben eintritt.

Daher, so Bardi, können wir uns trotz all unserer Kenntnisse über Erdbeben nur vor ihnen schützen, indem wir Gebäude errichten, die ihnen im Fall des Falles standhalten. Ähnlich sei es bei Finanzkrisen: Aufgrund der Komplexität der Finanzwelt sei niemand in der Lage, zu wissen, wann genau es zum nächsten Zusammenbruch des Bankensystems kommen wird. Bardi interpretiert die Hypothekenkrise von 2008 als klassisches Beispiel für einen „Seneca-Kollaps“, da der Absturz des Immobilienmarktes viel schneller erfolgte als sein vorheriges Wachstum.

Ein starres Menschenbild

In der Übertragung komplexer physikalischer Systeme auf soziale und gesellschaftliche Prozesse liegt eine innovative Stärke des mit zahlreichen Graphiken ausgestalteten Buches. Nur: Uneingeschränkt funktionieren diese Vergleiche nicht. Denn, um physikalische auf gesellschaftliche Phänomene umzulegen, braucht man ein mehr oder weniger starres Menschenbild.

So geht Bardi schlichtweg davon aus, dass „Menschen dazu neigen“, Ressourcen zu übernutzen. Dabei entgeht ihm, dass Raubbau und Zerstörung immer mit Macht- und Herrschaftsstrukturen zu tun haben, die historisch gewachsen sind und die stets auch verändert werden können.

Ugo Bardi

Privat

Bardi sieht eine Materialermüdung im Wirtschaftssystem

Fehlende Gesellschaftstheorie

Als zusätzliches Problem erweist sich, dass Bardi den hochproblematischen Thesen des britischen Ökonomen Thomas Malthus anhängt. Malthus entwickelte im frühen 19. Jahrhundert die nach ihm benannte Bevölkerungstheorie, die sich vor allem gegen die „zu starke Vermehrung“ armer Bevölkerungsschichten in England richtete.

Bereits Friedrich Engels trug als Haupteinwand vor, dass „Überbevölkerung“ grundsätzlich kein technisches, sondern ein sozioökonomisches Problem darstelle. Laut Engels stoße der Kapitalismus ein „Lumpenproletariat“ ab, dem im schlimmsten Fall jegliche Lebensberechtigung abgesprochen werde.

„Hartnäckige Sucht nach fossilen Brennstoffen“

Heute gehören beinahe eine Milliarde Menschen weltweit zu diesem „Lumpenproletariat“ – Ausgestoßene, die nicht einmal in den Genuss kommen, ausgebeutet zu werden. Auf diese Menschen richten sich noch heute alle Horrorszenarien der „Gefahr der Überbevölkerung“. Doch Bardi übersieht, dass laut dem Bericht des World Food Report mit der heutigen Landwirtschaft doppelt so viele Menschen ernährt werden könnten, wie gegenwärtig auf dem Planeten leben. An der Überbevölkerung kann der unkontrollierte Raubbau an den Ressourcen also nicht liegen.

Trotz des Umstandes, dass Bardi in Sachen Verteilungsgerechtigkeit eher schwammig argumentiert, bezieht er am Ende klar Stellung und rät dazu, Ökonomien zu entwickeln, die gegenüber den unvorhersehbaren Erschütterungen des globalen Finanzsystems sicher sind. Ebenso rät Bardi, dass wir „uns von der hartnäckigen Sucht nach fossilen Brennstoffen befreien, die unseren Planeten ruinieren“.

Warnung fünf vor zwölf

Denn mit einem „Peak Oil“ könnte ein ähnlicher Effekt eintreten wie mit einem „Peak Silver“ des Römischen Reiches. Doch schon bevor das eintritt, drohen verschiedene Kipppunkte des ökologischen Erdsystems überschritten zu werden, die nicht nur einen „Seneca-Kollaps“ der Gesellschaft, sondern des gesamten ökologischen Systems verursachen. Trotz einiger gewagter wissenschaftlicher Pirouetten liefert Bardi in seinem neuen Buch wichtige Belege dafür, dass ein Umdenken mehr als notwendig ist.

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