Themenüberblick

„Kosten der Männlichkeit“

Rund 200 Betroffene, Angehörige sowie Expertinnen und Experten sind dieser Tage im niederösterreichischen Stockerau zusammengekommen, um über ein Phänomen zu sprechen, das ebenso verbreitet wie tabuisiert ist: Männer, die an Depression erkranken - und wie diese sich selbst und andere ihnen helfen können.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Die Statistiken sind scheinbar eindeutig: Männer sind deutlich weniger von Depression betroffen als Frauen. Immerhin sind es nur halb so viele Männer, die wegen Depression behandelt werden. In der breiten Wahrnehmung sind psychische Erkrankungen generell und die Depression im Besonderen daher oft keine „männliche Angelegenheit“. Expertinnen und Experten gehen aber längst davon aus, dass Depression mindestens so sehr „Männersache“ wie „Frauensache“ ist. Weil Männer grundsätzlich Probleme haben, wegen psychischer Probleme Hilfe zu suchen, und wenn, dies meist später tun, tauchen sie schlicht weniger in den Statistiken auf.

Für den Psychotherapeuten und Männerforscher Erich Lehner gibt es denn auch grundsätzlich keinen Geschlechterunterschied bei der Dynamik der Depression. Was bei Männern aber dazukommt, sind „typische männliche Merkmale wie Aggressivität, verstärkte Autonomie, verstärkte Ärgerattacken“, so Lehner am Rande der Veranstaltung im ORF.at-Interview.

„Nach-außen-gedrängt-Sein“ statt „Selbstbezug“

Und hier kommt das gesellschaftlich noch immer vorherrschende Männlichkeitsbild ins Spiel, wie Lehner betonte: „Das Gefährlichste an der Geschichte ist, dass das aktuelle Männlichkeitsbild ein sehr hohes Leistungsdenken hat, es ist sehr auf Autonomie aus, sehr auf Durchsetzung aus - und das Ganze im Unterschied zum anderen, also in der Konkurrenz. Und das ist schon ein Ideal, eine Norm, an der viele Menschen scheitern können.“ Männer seien mit Männern in der Gruppe - ob in Arbeit oder anderswo - aufgrund der Konkurrenznorm in „herzlicher Feindschaft“ verbunden. Oder wie es der Soziologe Pierre Bourdieu nannte: als „Partner-Gegner“. Das ist eine große Stressquelle - über die Männer in der Regel aber wieder nicht reden (können).

Hilfe und Aufklärung

Die gemeinnützige Psychosoziale Zentren GmbH und die EU-weite Initiative Bündnis gegen Depression wollen die Lage von Menschen mit Depression verbessern und über die Krankheit aufklären. Sie sind - so wie andere Hilfsstellen - auch wichtige Ansprechstationen für Betroffene und Angehörige.

Eine Folge und zugleich Verstärkung dieses Männlichkeitsbildes ist laut Lehner der Umstand, dass Männer von Kindesbeinen an sozial ein „Nach-außen-gedrängt-Sein“ erleben und in der Familie, dem Ort, an dem idealerweise Empathie erlebt und erlernt wird, weniger präsent sind. Daraus resultierender weniger „Selbstbezug“ und die Abspaltung der Gefühle seien dann die „Kosten der Männlichkeit“, so der Experte unter Bezug auf den US-Soziologen Michael Messner.

Männer würden daher generell dazu tendieren, alles möglichst unabhängig und allein zu machen und nicht in Beziehung zu gehen. Wenn das bei einem Mann aber ganz absolut werde, sich dieser verstärkt zurückziehe, sich in die Arbeit stürze und die Haltung einnehme, „Ich mache alles allein, und mir kann keiner helfen“, und das nicht nur vorübergehend - dann sollte man an Depression denken.

„Zerrissen“ zwischen Männerbildern

Dass es mittlerweile auch ein anderes Männlichkeitsbild - das eines etwa fürsorglicheren und offeneren Mannes - gibt, ist grundsätzlich eine positive Entwicklung, kann laut Lehner bei einzelnen Männern „Zerrissenheit“ hervorrufen. Im Job müsse beispielsweise ein Manager dem männlichen Ideal anhängen und sich in der Konkurrenz behaupten, und gleichzeitig möchte er zu Hause der liebende Vater sein. Die „Anforderungen dieser beiden Welten kann er dann nicht vereinen“, und das könne durchaus zu Burn-out oder gar Depression führen.

Angesichts der beiden sich widersprechenden Männlichkeitsbilder sei „in erster Linie die Politik gefragt“, eine empathische Umgebung zu schaffen und Strukturen zu verändern. Eine Struktur, „die es Männern ermöglicht, sich zu ändern, und die sie auch motiviert, die Elemente eines versorgenden, fürsorglichen Männerbildes zu leben. Da ist sicher politisches Engagement gefragt“, so Lehner.

Verbindung zu „#MeToo“-Debatte

Und er fügt noch hinzu, notwendig sei ebenso, „dass wir auch sehr kritisch die traditionellen Männerbilder in der Gesellschaft diskutieren. Gerade die ‚#MeToo‘-Debatte (über sexuelle Belästigung von und Gewalt an Frauen, Anm.) zeigt ja, dass das traditionelle Männerbild immer auch mit der Abwertung von Frauen verbunden ist. Das werde Gott sei Dank nicht von allen Männern gelebt“, betont Lehner. „Worauf wir aber schon sehr aufpassen müssen ist, dass die Strukturen und Diskurse hier Grenzen setzen und dieses Bild hinterfragen. Denn es ist weder für Frauen noch für Kinder und schon gar nicht für Männer gesund, dieses Männerbild zu leben.“

Links: