Themenüberblick

Architektur im Pragrafendschungel

In seiner aktuellen Ausstellung „Form folgt Paragraph“ zeigt das Architekturzentrum Wien (AzW) nicht ohne Augenzwinkern, wie frei Architekten in ihrem kreativen Gestaltungsprozess wirklich sind und wie viel von dem, was tatsächlich umgesetzt wird, durch Baugesetze bestimmt ist.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Wie viel von dem, was täglich im Stadtbild zu sehen ist, von Gesetzen bestimmt wird, zeigt das Beispiel eines Wohnkomplexes mit integriertem Spielplatz. Die Sitzgelegenheiten für Erwachsene dürfen nur eine bestimmte Distanz zu den Spielgeräten haben, der verwendete Beton muss rutschfest und daher mit einem Besen aufgeraut sein, rund um den Spielplatz dürfen keine Bäume gepflanzt werden, um im Falle eines Brandes kein Feuerwehrfahrzeug zu behindern, Spielgeräte sind so normiert, dass kein Kinderkopf oder -finger stecken bleiben kann, verbautes Holz darf nicht splittern oder gar scharfe Kanten haben.

Impressionen der Ausstellung "Form folgt Paragraph"

ORF.at/Carina Kainz

Hier wird überprüft, ob ein Kinderkopf in einem Spielgerät stecken bleiben kann

„Erfreulicherweise ist das Sicherheitsniveau stetig gestiegen. Wir beobachten jedoch vielerorts eine Entwicklung, in der Eigenverantwortung von Warnhinweisen abgelöst wird“, so die Kuratorinnen Martina Frühwirth, Katharina Ritter und Karoline Mayer.

Prägende Regeln

Hinter der Entstehung neuer Häuser, Wohnkomplexe und Spielplätze stecken nicht nur Architekten und Stadtplaner, sondern auch eine Unmenge an Gesetzen und Regeln, die unser Stadtbild maßgeblich prägen. Das AzW beleuchtet, wie sich die Gesetze und Vorgaben in diversen Teilen der Welt unterscheiden und was sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Guten oder Schlechten geändert hat.

Die Ausstellung führt vor Augen, wie das Aussehen von Straßen, Häusern und Parks von Paragrafen der Bauordnung bestimmt wird - veranschaulicht an praktischen wie absurden Beispielen aus dem Alltag. In großen Fallstudien kann man als Besucher hier hinter die Fassade der Architektur blicken und erkennen, wie so manches Erscheinungsbild zustande kommt.

Stiegenparcour und Fallbeispiele

Kernstück der Schau sind mehrere Treppen, die sich durch den Ausstellungsraum ziehen und auf denen der Besucher selbst den kulturellen Unterschied zwischen einzelnen Bauten rund um den Globus anhand der genormten Stufen in beispielsweise Holland oder Japan erleben kann. Links und rechts der Treppen finden sich weitere internationale Vergleiche zum Thema, verpackt in weiße Ordner, in die man hineinschauen kann, um mehr Informationen zu den unterschiedlichen Themenschwerpunkten zu erhalten.

Impressionen der Ausstellung "Form folgt Paragraph"

ORF.at/Carina Kainz

Wie unterschiedlich Stiegen in diversen Teilen der Welt gebaut sind, kann man hier selbst erleben

Auf der einen Seite der begehbaren Stiegen findet sich die Entwicklung der heimischen Bauverordnung, hiesige Wohnprojekte und ihre Eigenheiten, aber auch eine Gegenüberstellung zwischen Österreich und anderen europäischen Ländern. So bekommt man hier einen Vergleich zur englischen Brandschutzordnung (verdeutlicht am kürzlich ausgebrannten Grenfell Tower in London), erkennt klare Unterschiede in puncto Mitspracherecht eines Bauvorhabens zwischen Österreich und der Schweiz oder muss sich die Frage stellen: Machen Kinder in Deutschland mehr Lärm als bei uns?

Wiener Eigenheiten

Ein relativ neues Phänomen in Wien, besonders für alteingesessene Stadtbewohner, sind straßenseitige Balkone. Was früher aufgrund diverser Bestimmungen nicht erlaubt war - eine Bierdose könnte zum Beispiel während einer Party vom Balkon fallen und einen vorbeigehenden Passanten verletzen –, ist seit ein paar Jahren möglich. Seit 2007 werden nicht nur Loggien, sondern auch offene Balkone gefördert; quasi ein Muss, da Freiflächen schon als Bedingung für geförderte Wohnbauten gelten.

Mit, gegen und ohne das Gesetz

Auf der anderen Seite stößt man auf eine Reihe spannender, ungewöhnlicher Projekte aus aller Welt. Wie arbeiten Architekten mit, gegen und ohne das Gesetz? Wie können sie sich Regeln so zunutze machen, dass sie Ergebnisse erzielen, die so von einer Baubehörde wahrscheinlich nicht gewollt waren?

Wie sich ein Streifen von gerade einmal fünf mal 35 Metern in der Wiener Peripherie bebauen lässt, zeigen Caramel architekten mit ihrem Projekt „CJ5“. Das nur 175 Quadratmeter große Grundstück wäre laut Baugesetz gar nicht nutzbar. Anhand ein paar geschickter Tricks und einer optimalen Nutzflächendichte entstand ein besonderes Haus mit erstaunlich offenem Charakter.

Auch der österreichische Architekt Adolf Loos wusste mit dem Haus Steiner, einer Auftragsarbeit, wie er die Baubestimmung umgehen konnte, um ein Maiximum an Raum zu gewinnen. Mit der Lösung, das Dach straßenseitig als Halbtonne auszuführen, konnte Loos anstelle der erlaubten zwei insgesamt drei Geschoße realisieren.

Anstoß zur Debatte

In der Ausstellung können Besucherinnen und Besucher übrigens auch ihre eigenen Ansprüche mittels eines Tests mit der Frage „Welcher Sicherheitstyp sind Sie?“ überprüfen und auf einer Beschwerdewand Anregungen und ihre persönlichen „Wunschgesetze“ in Sachen Baurecht deponieren.

Zentrum der Ausstellung sind aber jene Regelwerke, ohne die in der Architektur heute nichts mehr geht. Anschaulich, aber auch kritisch enthüllt die Schau des AzW die normalerweise unsichtbaren Hintergründe von Architektur und Stadtentwicklung an konkreten Beispielen. Sobald ein Entwurf Form annimmt, muss er sich einem Geflecht aus Bundes- und Landesgesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Normen stellen.

Allein der Umfang der Wiener Bauordnung ist seit dem Jahr 1829 von 30 auf 140 Paragrafen und rund 20 Nebengesetze angewachsen; Paragrafen, die durchaus ihre Notwendigkeit haben, aber auf der anderen Seite den kreativen Entstehungsprozess stark einschränken können. „Mit dem Blick hinter die Kulissen des Baugeschehens wollen wir eine breite gesellschaftliche Debatte anstoßen“, erklärt Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrum.

Link: