Zwischen Realpolitik und Angstsyndrom
Politisches Talent trifft Realpolitik. Dieses unter normalen Umständen in die Kategorie Rührstück fallende Schauspiel darf Deutschland in diesen Tagen und Stunden erleben, seit am Sonntagabend der ohnedies nicht zu rosige Traum einer Jamaika-Koalition ausgeträumt ist. Denn offenkundig geht ein Angstgespenst um in der deutschen Innenpolitik, das auf ein beinahe Doderer’sches Diktum hört: Wer sich in eine Koalition mit Angela Merkel begibt, kommt darin um.
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Jüngster Angst-Partner einer Zusammenarbeit mit der deutschen Kanzlerin, nachdem schon SPD-Chef Martin Schulz das Weite gesucht hatte: FDP-Chef Christian Lindner. Immerhin jener Mann, der die Liberalen mit seinen 38 Jahren aus der Bedeutungslosigkeit zurück in den Bundestag geführt hat.
Seit Montag weht ihm deutlich eisigerer Wind entgegen als in vielen Phasen seines jungen politischen Lebens, in dem er die Nummer „Ich trau mich“, „Ich habe kein Problem, Menschen vor den Kopf zu stoßen“ zu seinem Markenzeichen und bis jetzt auch zu einer Erfolgsnummer gemacht hatte.
Erinnerungen an das Kabinett Merkel II
Dass Lindner auf den letzten Metern der Jamaika-Verhandlungen alles hinschmiss, just in jenem Moment, als CDU, CSU und Grüne vor der mitternächtlichen Deadline ein Bewegungsergebnis verkünden wollten, irritiert nicht nur die Medien. Es irritiert vor allem Angela Merkel, die, anders als manch anderer Unionspolitiker die FDP stets mit einem mehr als skeptischen Blick maß.
Denn man erinnere sich. Im Kabinett Merkel II aus Union und FDP brauchte die zwischenmenschliche Annäherung zwischen dem Polittypus Guido Westerwelle und der zurückhaltenden Machtpolitikerin Merkel beinahe eine Legislaturperiode. Und sie fiel nicht zugunsten des später schwerkranken Westerwelle aus, der, ministeriell, neben der Europapolitikerin Merkel nie in die Fußstapfen seines Politanspruchs steigen konnte und schon gar nicht im Berliner Außenamt anzukommen schien.
Der Umstand, dass der gewiefte und nie um einen verkürzenden Sager verlegene Lindner die FDP aus der Randlage außerhalb des Bundestages zurück auf die politische Bühne brachte, nötigt Merkel wohl Respekt ab. Anerkennung wird sie für den Polittypus Lindner und seinen noch mehr polternden Vize, Wolfgang Kubicki, nie aufbringen.

APA/AFP/Odd Andersen
FDP-Chef Christian Lindner am Sonntagabend beim Verkünden des Ausstiegs der FDP aus den Jamaika-Sondierungen
So tickt das System Merkel
Wer den Beraterstab der deutschen Kanzlerin Angela Merkel kennt, der weiß eines. Merkel liebt Kompetenz, Wissen auf höchstem Niveau. Und sie verachtet eitle Selbstdarstellung. So ticken nicht zuletzt die Männer, die Schlüsselspieler im System Merkel sind. Ihr Sprecher, Ex-ZDF-Moderator Steffen Seibert, etwa tickt nach dieser Effizienz. Der heutige Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hat genau mit diesem Zuschnitt still und effizient Karriere gemacht.
Und Merkels neuer außenpolitischer Berater, Jan Hecker, brillanter Jurist mit Habilitation, wirkt stets unauffällig wie uneitel im Hintergrund. Dass das Verhältnis Merkel und Lindner schwierig sein würde, war vor den Verhandlungen von Jamaika klar, erinnerte nicht zuletzt die „Süddeutsche Zeitung“. Lindner selbst habe ja eine zentrale Begegnung mit Merkel im Jahr 2009, als die FDP einen fulminanten Erfolg eingefahren hatte, in seinem Buch „Schattenjahre“ festgehalten.
Lindner, so hält es der FDP-Chef fest, habe Merkel darauf angesprochen, dass jetzt, wo Union und FDP eine Koalition mit satter Mehrheit bilden können, „endlich das Land und Reformen“ voranzubringen wären. Ein Umstand, den Merkel kühl mit den Worten gekontert habe, sie werde aufpassen, „dass wir ihr nicht das Land in Brand stecken“.
„Uns ist das Lachen bald vergangen“
Bald, so rekapituliert Lindner, sei der FDP das Lachen vergangen. Und Lindner erinnert sich in seinem Buch auch daran, wie man an der Seite Merkels de facto untergegangen und schließlich aus dem Bundestag gefallen sei. Ob der Tote-Hosen-Hit „An Tagen wie diesen“ damals auf der Wahlparty der CDU im Adenauerhaus der FDP gewidmet worden sei oder nicht, mag man als Politfolklore abtun. Für die FDP blieb ein Merkel-Trauma.
Für Lindner selbst hat das Aus einer Koalitionsoption noch einen weiteren Aspekt. Denn ein anderer Mann wäre möglicherweise Schlüsselperson einer Jamaika-Regierung geworden. Der Kieler Anwalt und FDP-Politiker Wolfgang Kubicki war das Provokationsraubein der Jamaika-Verhandlungen. Und er genoss sichtlich alle Spekulationen, er könne der nächste Finanzminister einer Jamaika-Koalition werden. Von einem „Nichtangriffspakt zwischen Lindner und Kubicki“ schrieb der Politjournalist Mike Szymanski während der Sondierungen über die beiden Alphatiere.

Reuters/Axel Schmidt
Als die Welt beim Sondieren noch eine Spur mehr in Ordnung war: Christian Lindner (FDP), Angela Merkel (CDU), Karin Göring-Eckhardt (Grüne) und Peter Altmaier (CDU)
Der Mann hinter und gegen Westerwelle
Kubicki war es, der Westerwelle in der Spätphase von Merkel II den Teppich unter den Füßen weggezogen und die FDP damals mit „der Spätphase der DDR“ verglichen hatte. Dass er mit dem Fallschirm-Opfer Jürgen Möllemann einst die „18+“-Strategie erfunden hatte, die Westerwelle sogar auf seiner Schuhsole in Talkshows getragen hatte, war damals schon fast vergessen.
Sonntagnacht standen Kubicki und Lindner gemeinsam vor der Presse. Man habe auch gemeinsam den Text Lindners ausgearbeitet. Den Scherbenhaufen in den Tagen danach muss noch Lindner selber erklären. Kubicki zieht sich derweil auf ein geübtes Terrain zurück: jenes des Politikers, der Politik süffisant kommentiert.
SPD und FDP in der Sorge vereint
Geeint steht die FDP nun mit der SPD da. Martin Schulz hatte ja nach der Wahlniederlage sofort Reißaus vor dem Zusammenarbeiten mit Merkel genommen. Eine dritte Koalition mit Merkel, das wäre das Ende der SPD, hörte man von den deutschen Sozialdemokraten. Sie dürfen sich zurzeit mit der FDP den schwarzen Peter für die Krise, in der Deutschland gelandet ist, teilen.

ORF.at
2005, noch vor dem Kabinett Merkel I, scherzte der Eichborn-Verlag mit einem Buchcover. Und auch jetzt könnte Merkel vor dem Ende ihrer 16 Jahre Amtszeit zu früh abgeschrieben werden.
Überdies schien die SPD zuletzt so auf Opposition einbetoniert, dass man einen erfolgreichen Abschluss von Jamaika mehr herbeisehnte als Jamaika selbst. Wie wären sonst die handwerklichen Fehler zu erklären, die der SPD am Tag nach dem Scheitern passiert sind? Noch bevor sich der ehemalige SPD-Politiker und momentane Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die Öffentlichkeit wandte mit seiner Mahnung gegen Neuwahlen, hatte sich Schulz für die SPD „bereit“ gezeigt, auch Neuwahlen anzunehmen.
Mit welchem Personal, das darf wohl der SPD selbst ein Rätsel bleiben. Am Wochenende hatten SPD-Politiker, so hört man aus Berlin, Wetten angeboten, dass Jamaika kommen werde. Am Morgen danach hatte man plötzlich internen „Klärungsbedarf“, nachdem sich die Lage just so geändert hatte. Dass Steinmeier seine ehemaligen Genossen überreden kann, doch noch einmal mit der Union zu koalieren, gilt als unwahrscheinlich. Auch bei der SPD geht ein Gespenst um: der Morbus Merkel.
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