„Kultur, Medaillenchancen zu bewahren“
Seitdem im September des Vorjahres erstmals Vorwürfe sexueller Belästigung von US-Gymnastiksportlerinnen, viele von ihnen noch im Kindesalter, durch den Teamarzt Larry Nassar bekanntgeworden sind, wird die Welt des olympischen US-Sports von diesem und vielen weiteren Skandalen erschüttert.
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Die „Washington Post“ zog am Wochenende in einem ausführlichen Bericht eine vorläufige Bilanz über die nun vorliegenden Vorwürfe, die seit Bekanntwerden der Missbrauchsvorwürfe gegen den Hollywood-Tycoon Harvey Weinstein und der darauf folgenden „#MeToo“-Kampagne, deutlich zunahmen.
Vorwürfe gegen 290 Trainer und Offizielle
Dem Bericht zufolge wurden allein in den USA mehr als 290 Trainer und Offizielle, die eine Verbindung zu nationalen Olympiaorganisationen haben, öffentlich des sexuellen Fehlverhaltens bezichtigt. Die Vorwürfe sollen bis in das Jahr 1982 zurückreichen und sich über 15 Sportarten erstrecken. Die „Washington Post“ errechnete, dass das - aufgeteilt über die 36 Jahre - bedeutet, dass jede sechste Woche ein Erwachsener sexuellen Fehlverhaltens bezichtigt wurde.
Zu den 290 Männern zählen 175 Offizielle, die wegen Sexverbrechen verurteilt wurden, und solche, die niemals angeklagt wurden und die Vorwürfe bestritten - darunter der Gymnastiktrainer Don Peters, der 1984 gesperrt wurde, nachdem zwei Sportlerinnen ihm vorgeworfen hatten, er habe Sex mit ihnen gehabt, als sie minderjährig waren.

APA/AFP/Getty Images/Ronald Martinez
Die Turnerin McKayla Maroney - hier 2012 im kalifornischen San Jose - hatte zuletzt Ex-Teamarzt Nassar sexuelle Belästigung vorgeworfen
Medaillen wichtiger als Sicherheit der Kinder
Auch beim derzeit größten Fall - jenem des Arztes Nassar, der mittlerweile von mehr als 120 Frauen geklagt wurde - wartete der Gymnastikverband mehrere Wochen, nachdem erste Vorwürfe laut wurden, bevor er 2015 die Polizei einschaltete. Der Staat Michigan, wo Nassar weiter mit jungen Athletinnen arbeitete, wurde erst im August 2016 informiert.
Dass solche Fälle trotz der langen Geschichte immer wieder „passieren“, hat laut „Washington Post“ einen klaren Grund: In olympischen Sportverbänden gebe es „eine Kultur, in der die Vermeidung rechtlicher Risiken und der Erhalt der Chancen auf Medaillen wichtiger sei als die Sicherheit von Kindern“. Dieses Bild ergebe sich bei der Durchsicht der Aussagen Offizieller gegenüber Strafbehörden in vergangenen und aktuellen Verfahren.
Verhindert und verzögert
Bis heuer wehrte sich das Olympische Komitee der USA stets gegen Initiativen für ein eigenes Gesetz, um sexuellen Missbrauch und Belästigung zu verhindern. Führende US-Verbandsvertreter in verschiedenen olympischen Disziplinen hätten Reformen stets verweigert und auf die hohen Kosten und die Einschränkung der Verbandsautonomie verwiesen, die allgemeine Maßnahmen zur Sicherheit von Kindern mit sich brächten. Und die Anwälte der Verbände warnten besonders eindringlich vor einer Flut von Klagen, wenn Kinderschutzmaßnahmen eingeführt würden.
„Problem in allen Sportarten“
„Wir hören nur über die Gymnastiksportarten, aber die Probleme gibt es in gleichem Maße in alle anderen Sportarten auch“, so die frühere olympische Schwimmerin Katerinne Starr, die selbst Opfer sexuellen Missbrauchs wurde und den Verein Safe4Athletes gründete. „Die Menschen beginnen erst die Komplexität des Ganzen zu verstehen und wie sich das im System fortsetzt. ... Missbrauch und Belästigung bestehen weiter wegen der Führung und wegen der Leute, die verantwortlich sind.“
Eine der Turnerinnen, die in den letzten Wochen mit ihren Vorwürfen an die Öffentlichkeit ging, McKayla Maroney, fasste das Skandalöse, Verwerfliche und Schmerzliche aus Sicht der Sportlerinnen so zusammen: „Ich hatte den Traum, an den Olympischen Spielen teilzunehmen - aber was ich dafür ertragen musste, war unnötig und widerlich.“
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