„Nichts an Sozialen Medien ist sozial“
Die Kulturforscherin und mittlerweile auch Filmemacherin Mieke Bal im Interview mit ORF.at über die neuen Chancen der digitalen Revolution, den Wunsch nach einer größeren, direkteren Beteiligung der Bevölkerung bei politischen Projekten und unseren Hang, mitunter zu sehr zu vereinfachen.
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Bewegungen sieht die ehemalige Grassroot-Aktivistin im feministischen Bereich als einen wichtigen politischen Faktor. Aber sie erwartet sich Nachhaltigkeit statt schneller Lösungen. Und die Fähigkeit, in gesellschaftlichen Debatten komplexe Themen nicht gewaltsam zu vereinfachen.
Sie haben über Jahrzehnte über alle kulturwissenschaftlichen Fragestellungen geforscht und mit Ihrer Schule der Kulturanalyse auch eine eigene historische Disziplin begründet. Wie schätzen Sie die Auswirkungen der digitalen Revolution ein, die ja quasi in ihr jahrzehntelanges Forschungsfeld geplatzt ist?
Mieke Bal: Ich sehe in der digitalen Revolution sicher den Vorteil, dass es eine enorme Demokratisierung von Produktionsmitteln gebracht hat, die früher so nicht zur Verfügung standen. Ich sehe zugleich den Nachteil, dass YouTube und Co. das Prinzip des Samplings in unsere Köpfe gebracht hat. Statt dass wir „schauen“, glauben wir nach zwei Minuten, eine Sache erfasst zu haben, und gehen zur nächsten. Und die Form des Betrachtens, Reflektierens und der Geduld ist uns abhandengekommen. Ich sehe dennoch, dass die digitalen Plattformen, ich würde sie nie „Soziale Medien“ nennen, denn da ist nichts „sozial“ daran, so etwas wie Begegnungen möglich machen, die man so früher nicht machen konnte.
Wer, meinen Sie, wählt diese Begegnung aus? Ist hier noch die eigene Neugierde die Triebfeder oder der Algorithmus?
Bal: Ich für meinen Teil erlebe, was jetzt zum Beispiel meine filmische Arbeit anlangt, dass sich der Raum zu einem neuen Publikum öffnet, das nicht aus dem akademischen Bereich kommt, das aber schon mit einem Bezug zur Realität meine Inhalte ansteuert. Insofern spielt da schon eine reale Grundlage noch eine tragende Rolle. Wir sollten nur diesen ganzen Mist mit „Freunden“ vergessen – meist ergeben sich da oberflächliche Kontakte, im Idealfall ist aber so etwas wie eine Begegnung nach einer Kontaktaufnahme über digitale Netzwerke möglich.
Was bedeutet das insgesamt für den Prozess von Öffentlichkeitsbildung?
Bal: Ich denke mir, die entscheidende Fragestellung ist, ob über öffentlich digitale Netzwerke Dialoge möglich werden. Ich sehe ein Problem in der Kombination von Selbstzentrierung und einer sehr kurzen Aufmerksamkeitsspanne, wie wir das beim Twittern sehen. Und vergessen wir nicht, aus einer Superpower richtet jemand dauernd Tweets an uns. Was für eine Form von Kommunikation oder Dialog soll das sein?! Jeder fühlt, dass er eine öffentliche Figur sein kann, und Facebook baut vor allem auf diesem Modus auf. Tatsächlich sind aber jene Personen in den Netzwerken interessant, die nicht nach dieser Logik operieren – und sei es nur, weil es ihnen eine Form von Connectivity gibt, die sie sonst nicht hätten. Hier entstehen die interessanten Kontakte und Begegnungen. Jene Leute zu treffen, die nicht im eigenen Zirkel sitzen, die oft nicht mal einen eigenen Computer haben, mit Flüchtenden etwa Kontakt zu bekommen und Lebensgeschichten zu erfahren.
Glauben Sie, dass die Kultur der Repräsentation im Moment unter Druck gerät, weil man alle Formen direkter Kommunikation und Abstimmung attraktiver findet?
Bal: Unsere Form parlamentarischer Demokratie ist ja zunächst einmal ein Vorgang, bei dem man Aufgaben, die sich einer Gesellschaft und einem Land stellen, bewältigbar macht. Wir können nicht von einem Chaos, in dem jeder eine Meinung hat, regiert werden. Aber wir müssen auf die Möglichkeiten und Verdichtungen sozialer Interaktion achten. Und da gibt es im Moment Möglichkeit, Versäumnisse nachzuholen. Wir brauchen gerade vor dem Hintergrund der technischen Möglichkeiten der Gegenwart ein Training in Soziabilität, in unserem zwischenmenschlichen Verhalten. Das kann man nicht dem großen demokratischen System überantworten.
Und natürlich stellen wir in der Gegenwart fest, dass viele Formen der Demokratie, wie wir sie in unterschiedlichen Ländern erleben, komplett ausgehöhlt werden. Wie kann jemand gewählt werden, wenn die eigentliche Mehrheit eigentlich einen ganz anderen Kandidaten wollte? Wir brauchen heute ein System der Repräsentation, damit eine Gesellschaft funktioniert, aber es muss sich auch die Dichte der gesellschaftlichen Interaktion in einem politischen System abbilden, es müssen Parlamentarier in sehr engem Kontakt mit der Bevölkerung stehen. Ideen werden auf der Straße, in den Schulen, auf den Plätzen geprägt.
Sind Sie dann der Meinung, dass wir heute eher „Bewegungen“ brauchen anstatt „Parteien“, oder laufen wir dann auch wieder nur einer Fancy von Direktheit nach?
Bal: Das ist natürlich eine Fantasie, dieser Glaube, dass eine Bewegung, wenn sie mal erfolgreich ist, diese Aufbruchsstimmung bewahren kann. Ich komme selbst aus der Kultur der Grassroot-Bewegungen, etwa im Feminismus, und ich glaube, dass Bewegungen wichtig sind, schon allein, weil Parteien mittlerweile so verkrustet sind und man bezahlen muss, um Mitglied zu sein. Außerdem bestimmen die Parteien die Kandidatenlisten, was am Willen der breiten Bevölkerung vorbeigeht. Bewegungen muss man ernst nehmen für das, was sie wollen. Aber natürlich sind Bewegungen nicht die Lösung.
Sehen Sie die Gefahr, dass Bewegungen etwas Ikonoklastisches, Kulturstürmerisches haben – und dass im Moment auch viele Errungenschaften der Vergangenheit abgeschafft werden, einfach, weil man meint, Dinge müssen unbedingt anders werden?
Bal: Ja, ich sehe diese Gefahr. Ich sehe mal zuerst den Anspruch von Bewegungen, dort anzusetzen, wo Parteisysteme zu verknöchert geworden sind. Es ist zu wenig zu sagen: Wir sind eine Bewegung, und wir setzen dich jetzt ab, weil du das alte System bist. Trump hat uns ja auch vorgegaukelt, eine Art von Bewegung zu sein. Aber Bewegungen müssen auch Rechenschaft ablegen für die Konzepte, die sie vertreten, und sie müssen in einen Dialog treten, das halte ich für zentral. Wir müssen auch aufpassen bei Bewegungen, die dann den Slogan von „direkter Demokratie“ vor sich hertragen. Was soll das sein? Das ist einfach nur wieder ein anderer Tweet.
Verlieren wir im Moment in dieser Gemengelage Errungenschaften der Vergangenheit?
Bal: Als ich eine junge Feministin war, haben wir unsere BHs verbrannt als Zeichen des Protests, und danach hab ich mir wieder welche gekauft, weil ich sie einfach brauchte. Vieles mag sich geändert haben, aber wenn ich genau hinschaue, dann verdienen Männer immer noch 16 Prozent mehr für die gleiche Arbeit als Frauen, und Sexismen und Übergriffe sind weiter an der Tagesordnung.
Ich finde, Weckrufe sind wichtig, aber man muss genau hinschauen, was passiert, etwa auch mit der „#Metoo“-Bewegung. Ich sehe zum Beispiel das Problem, dass diese Bewegung Stigmatisierungen befördert. Hier wird zu sehr vereinfacht. Es ist gefährlich, bestimmte Personen aufgrund ihrer Machtposition jetzt so an den Pranger zu stellen.
Gibt es dann einen „richtigen“ Weg, solche Missstände aufzudecken?
Bal: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Wir hatten eine Kommissionssitzung, und während dieser Sitzung greift mir mein Nebenmann ständig und öffentlich aufs Knie. Ich hab mich danach im höchsten Unigremium beschwert. Aus formalen Gründen wurde die Beschwerde abgelehnt. Aber ich hatte eine Möglichkeit, zu reagieren: Ich erzählte allen Kolleginnen und Kollegen, was dieser Mann getan hat. Der Gossip war in dem Fall meine Option des Umgangs. Ich wollte den Typen benennen.
Glauben Sie, dass wir im Moment einfach nicht mehr differenziert argumentieren können und dass es entweder Schwarz oder Weiß gibt? Im Sinn von: Ich steh auf dieser Seite oder auf der anderen?
Bal: Ich glaube, ein Hauptproblem der Welt ist, dass wir nur noch in binären Oppositionen denken. Natürlich brauchen wir davon, um das Chaos der Welt zu sortieren. Das Problem liegt in der Vereinfachung und danach in der Gegenüberstellung. Das ist ein Prozess, den man unterbinden muss, ebenso wie alle Versuche, Probleme zu hierarchisieren. Eigentlich liegt in dieser Triade die Ursache für das Gros der Probleme, die wir heute in der Welt haben. Das ist ein Umstand, den man nur durch Erziehung, Unterricht verändern kann – und mein Feld der Kulturanalyse setzt genau auf die Nuancierung von Fragestellungen. Und besseres Sozialverhalten ist einfach eine Frage von intensivem Training.
Die Kulturanalyse hat diesen Zugang, weil sie sich als interdisziplinären Zugang sieht, wie wir mit Kunst umgehen, dass wir das aus der Gegenwart heraus tun und einer Reihe von Hintergründen, die uns prägen. Das, was wir erleben, verstehen wir aber als intensiven Kommunikationsvorgang in der Gegenwart, in der wir uns befinden und wo das Objekt das letzte Wort hat. Die politische Dimension von Kultur und von Kunst liegt in der Kombination von Individualität und unserer Fähigkeit, uns gesellschaftlich zu verständigen. Ich bin aber gegen instrumentalisierte Kunst, also auch „activism art“, viel lieber spreche ich von „activating art“, also Kunst, die uns anregt und in uns einen vielschichtigen Prozess in Gang setzt.
Links:
Das Interview führte Gerald Heidegger, ORF.at