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Direktere statt direkte Demokratie

„Wir setzen dich ab, weil du das alte System bist.“ Unter diesem Slogan und ähnlichen agierten heute Parteien und täuschten der Bevölkerung vor, sie hätte es mit neuartigen Bewegungen zu tun. Das konstatiert die angesehene Amsterdamer Kulturforscherin Mieke Bal bei ihrer Wien-Visite. Dabei seien Bewegungen wichtige Triebfedern für eine Demokratie und gegen das verknöcherte Parteiensystem.

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Aber, so ihre Warnung: Bewegungen müssten einem nachhaltigen Konzept folgen und nach einem politischen Erfolg umso intensiver in den Dialog mit der Bevölkerung treten. Nur über diesen Austausch, gibt sich Bal im Interview mit ORF.at gewiss, könnten neue, nachhaltige Ideen die Gesellschaft verändern.

Bal, die mit ihrem Amsterdamer Institut für Kulturanalyse ein breites Konzept der Aufarbeitung kultureller und gesellschaftspolitischer Themen verfolgt, war auf Einladung ihres jungen österreichischen Forschungszweiges, des Wiener Arbeitskreises Kulturanalyse, in der Bundeshauptstadt zu Gast. Und stellte sich dabei gleich einer Reihe aktueller Debatten, die ja in anderen Ländern, auch in Bals Heimat, den Niederlanden, mit ähnlicher Vehemenz diskutiert werden.

Warnung vor Worthülsen

Den Hang zu mehr direkter Demokratie konstatiert sie auch. In der Debatte über mehr Partizipation ist sie für eine Differenzierung, zumal sie „direkte Demokratie“ zunächst einmal als leeres Schlagwort verortet. „Unsere Form parlamentarischer Demokratie ist ja zunächst einmal ein Vorgang, bei dem man Aufgaben, die sich einer Gesellschaft und einem Land stellen, bewältigbar macht. Wir können nicht von einem Chaos, in dem jeder eine Meinung hat, regiert werden“, so Bal.

Im Hinblick auf die Möglichkeiten moderner Technik fordert sie aber, dass eine Gesellschaft auf „die Möglichkeiten und Verdichtungen sozialer Interaktion“ achtet. Und da gebe es im Moment die Möglichkeit, Versäumnisse nachzuholen.

Porträt von Mieke Bal

Henk Thomas

Tritt für eine differenzierte Betrachtung gesellschaftlicher Debatten ein, auch etwa zum Fall von #MeToo: die niederländische Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal

Wohin mit der Aufbruchstimmung?

„Wir brauchen heute ein System der Repräsentation, damit eine Gesellschaft funktioniert, aber es muss sich auch die Dichte der gesellschaftlichen Interaktion in einem politischen System abbilden, es müssen Parlamentarier in sehr engem Kontakt mit der Bevölkerung stehen“, fordert Bal. Und ergänzt: „Ideen werden auf der Straße, in den Schulen, auf den Plätzen geprägt.“

Dass „Bewegungen“ gerade derart in Mode seien, hat für die ehemalige Grassroots-Aktivistin klare Gründe: „Das ist natürlich eine Fantasie, dieser Glaube, dass eine Bewegung, wenn sie mal erfolgreich ist, diese Aufbruchstimmung bewahren kann. Ich komme selbst aus der Kultur der Grassroots-Bewegungen, etwa im Feminismus, und ich glaube, dass Bewegungen wichtig sind, schon allein weil Parteien mittlerweile so verkrustet sind und man bezahlen muss, um Mitglied zu sein.“

Es seien die Parteien, die Kandidatenlisten bestimmten - so etwas gehe nun einmal am Willen der breiten Bevölkerung vorbei. „Bewegungen muss man ernst nehmen, für das was sie wollen. Aber natürlich sind Bewegungen nicht die Lösung“, sagt Bal, die die Gefahr sieht, dass Bewegungen etwas Ikonoklastisches, Kulturstürmerisches beikommen könne.

Warnung vor vermeintlichen Bewegungen

Sie orte „zuerst den Anspruch von Bewegungen, dort anzusetzen, wo Parteisysteme zu verknöchert geworden sind“. Doch es sei zu wenig zu sagen: „Wir sind eine Bewegung und wir setzen dich jetzt ab, weil du das alte System bist.“

Donald Trump habe uns ja auch vorgegaukelt, eine Art von Bewegung zu sein. „Aber Bewegungen müssen auch Rechenschaft ablegen für die Konzepte, die sie vertreten, und sie müssen in einen Dialog treten.“

Sie sehe im Moment Tendenzen, Errungenschaften der Vergangenheit zu verlieren. Zugleich erinnert sie aber daran, dass es einfach noch immer zu große Unterschiede zwischen Männern und Frauen gebe, etwa bei der Bezahlung für die gleiche Arbeit: „Vieles mag sich geändert haben, aber wenn ich genau hinschaue, dann verdienen Männer immer noch 16 Prozent mehr für die gleiche Arbeit als Frauen, und Sexismen und Übergriffe sind weiter an der Tagesordnung.“

Für differenzierte Betrachtung von #MeToo

Sie findet „Weckrufe wichtig“, doch man müsse genau hinschauen, etwa auch bei der #MeToo-Bewegung. „Ich sehe zum Beispiel das Problem, dass diese Bewegung Stigmatisierungen befördert. Hier wird zu sehr vereinfacht. Es ist gefährlich, bestimmte Personen aufgrund ihrer Machtposition jetzt so an den Pranger zu stellen“, kritisiert Bal, die sich eindringlich für die Kultur eines differenzierten politischen Diskurses einsetzt.

Buchhinweis

Mieke Bal präsentierte in Wien den von Anna Babka und Katrin Lasthofer herausgegebenen Band „Representation revisited“, der sich auch mit dem Porträtprojekt „Radical Bust“ der Künstlerin Marianne Maderna im Arkadenhof der Uni Wien beschäftigt, Turia + Kant, 180 S., 22 Euro.

„Ein Hauptproblem der Welt ist, dass wir nur noch in binären Oppositionen denken“, konstatiert die Kulturforscherin. Natürlich müsste man vereinfachen, um mit dem Chaos in der Welt zurechtzukommen. Aber, so ihr Einwand: „Das Problem liegt in der Vereinfachung und danach in der Gegenüberstellung. Das ist ein Prozess, den man unterbinden muss, ebenso wie alle Versuche, Probleme zu hierarchisieren.“ Eigentlich liege das Gros der Probleme in der Welt in der Triade aus Vereinfachung, Gegenüberstellung und Hierarchisierung von Problemstellungen.

Gegen diese Formen der Vereinfachung könne man nur mit Erziehung und Unterrichten ankommen. Ihr eigenes Feld der Kulturanalyse setze genau auf die Nuancierung von Fragestellungen. „Und besseres Sozialverhalten ist einfach eine Frage von intensivem Training“, gibt sich Bal überzeugt.

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