Pflichtmitgliedschaft auf dem Tapet
Im Zuge der schwarz-blauen Koalitionsverhandlungen ist auch die Pflichtmitgliedschaft der Kammern wieder zum Thema geworden. FPÖ und NEOS forderten im Wahlkampf deren Abschaffung - gemeinsam mit der ÖVP hätten sie nun die nötige Verfassungsmehrheit. Wie die ÖVP handeln wird, ist offen.
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Die Pflichtmitgliedschaft in der Arbeiterkammer (AK) und der Wirtschaftskammer (WKÖ) ist gesetzlich geregelt und seit Jänner 2008 zusätzlich verfassungsrechtlich abgesichert. „Die Republik anerkennt die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern“, heißt es in Artikel 120a.
Einigkeit in der AK
Dass alle Arbeitnehmer (mit Ausnahme der öffentlich Bediensteten) und alle Unternehmer den jeweiligen Kammern angehören müssen, ist im Arbeiterkammer- und im Wirtschaftskammergesetz geregelt. Die Wirtschaftskammer zählt 506.145 Mitglieder, der Großteil Einzelunternehmer. Sie zahlen nach Angaben der Kammer 541 Mio. Euro Kammerumlage. Die Arbeiterkammer beziffert die Einnahmen aus den Beiträgen ihrer 3,64 Mio. Mitglieder mit 432,6 Mio. Euro.
AK-Direktor Christoph Klein warnte kürzlich davor, dass ein Ende der Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer auch die Kollektivverträge gefährden würde. Rolf Gleissner von der Abteilung Sozialpolitik der Wirtschaftskammer sah das ähnlich. Er erklärte das damit, dass der Großteil der rund 500 Branchenverträge vom jeweiligen Fachverband für alle Mitgliedsunternehmen verhandelt wird.
Österreich bei Reichweite im Spitzenfeld
Wer der Wirtschaftskammer angehört, ist damit automatisch auch an den jeweiligen Kollektivvertrag gebunden. Dürften einzelne Unternehmen austreten, müssten sie auch den Kollektivvertrag nicht einhalten und könnten ihre Konkurrenten an der Lohnfront unterbieten. Damit sichere der Kollektivvertrag auch faire Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen, sagte Gleissner der APA: „Der Wettbewerb nach unten soll nicht über die Löhne ausgetragen werden.“
Bei der Reichweite der Kollektivverträge liegt Österreich gemeinsam mit Frankreich im Spitzenfeld: Laut den jüngsten verfügbaren OECD-Zahlen erfassten die Kollektivverträge 2013 98 Prozent der Arbeitnehmer in den beiden Ländern. In Deutschland waren es zu Beginn der 1990er Jahre noch 85 Prozent - zuletzt waren es nur noch 58 Prozent. Als wesentlichen Faktor für eine hohe Kollektivvertragsabdeckung wertet die OECD den hohen Organisationsgrad der Arbeitgebervertretungen - weniger spielentscheidend ist demnach die Stärke der Gewerkschaften.
„Produktivitätspeitsche“
Mit dem Ende der Pflichtmitgliedschaft kämen auch die Kollektivverträge unter Druck, wie Thomas Leoni vom Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) sagte. „Je höher der Organisationsgrad bei den Arbeitgebern ist, umso höher ist die Kollektivvertragsabdeckungsquote“, sagte Leoni gegenüber der APA. Dass die 98 Prozent ohne Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer zu halten wären, glaubt er nicht. Zwar sei unklar, in welchem Ausmaß und wie rasch die Kollektivverträge erodieren würden, aber: „Wenn die Pflichtmitgliedschaft aufgehoben wird, ist zu erwarten, dass die Kollektivvertragsabdeckungsquote über die Zeit sinken wird.“
Dass das derzeitige System alternativlos wäre, glaubte Leoni zwar nicht. Grundsätzlich könnten natürlich unterschiedliche Wege zum Erfolg führen. Für Österreich habe das Kollektivvertragssystem aber Vorteile gebracht, weil es als „Produktivitätspeitsche“ für die Exportindustrie gewirkt habe. „Unternehmen, die besser dastehen, können sich mehr leisten. Die anderen kommen unter Druck und müssen produktiver werden oder verschwinden vom Markt“, so Leoni. Nicht umsonst lege die exportorientierte Metallindustrie bei den jährlichen KV-Verhandlungen die Messlatte für alle anderen Branchen. Wobei in schwierigen Jahren durchaus auch eine moderate Lohnentwicklung zu beobachten gewesen sei. Für eine kleine, offene Volkswirtschaft wie Österreich habe die „koordinierte Lohnfindung“ daher bisher gut funktioniert.
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