Politmythen im Gedenkjahr
Irina Scherbakowa ist eine russische Germanistin, die bereits zu Sowjetzeiten als Übersetzerin und Journalistin gearbeitet hat. 1987 gründete sie die Menschenrechtsorganisation Memorial, die heute die größte in Russland ist. Ihre Spezialgebiete: Stalinismus, das kulturelle Gedächtnis Russlands und Erinnerungspolitik. ORF.at interviewte sie anlässlich des Jahrestages der Oktoberrevolution.
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ORF.at: Welche Rolle spielt die Oktoberrevolution des Jahres 1917 für die heutige russische Identität?
Irina Scherbakowa: Sie spielt fraglos eine große Rolle, wenn man bedenkt, welche Umwälzungen sie nach sich gezogen hat. Es folgten Terror und Diktatur, deren direkte Folgen bis heute visuell sichtbar und auch mental zu spüren sind. Eine andere Frage ist die nach der aktiven Erinnerung.
ORF.at: Wie verhält sich das offizielle Russland zum Jubiläum bzw. Gedenken?
Scherbakowa: Von staatlicher Seite aus wird das Datum eher ignoriert. Es wird so getan, als seien die Ereignisse von damals heute nicht mehr relevant. Auf entsprechende Fragen von Journalisten stellte ein Sprecher des Präsidenten nur nebulöse Gegenfragen: „Woran soll man da erinnern? Warum fragt man uns das überhaupt?“ Die wahre Frage, die nach dem Zugang der Regierung zu diesem historisch entscheidenden Ereignis, wird offengelassen.
Dazu müsste man ja echte Aufarbeitung betreiben, das Geschehene tatsächlich verarbeiten, und dann auch zu allem Stellung nehmen, was auf die Revolution folgte, bis heute. Ich habe das Gefühl, dass man da gegen Ende der 90er Jahre schon weiter war. Es gab damals viele Publikationen, es wurde mit Dokumenten aus den Archiven gearbeitet - vieles ist da überhaupt erst bekanntgeworden.
Da wurden Mythen zerstört, die von den Sowjets aufgebaut worden waren über diese legendären Oktobertage. Das war keine Revolution, die vom Volk ausgegangen ist. Das war eine Machtergreifung der Bolschewiki, die einen Bürgerkrieg provoziert hatten.
Dann gibt es aber auch noch eine andere Mythologisierung: die des Zarenreiches. Viele verspüren Wehmut, wenn sie an das untergegangene zaristische Großreich denken, sie haben eine Sehnsucht nach diesem verlorenen Russland. Die Zarenfamilie wird in den Köpfen einiger heiliggesprochen, vor allem der letzte Zar wird als Märtyrer verehrt, als das größte Opfer des schönen, wahren Russland. Selbst Alexander Solschenizyn war von dieser Art zu denken nicht frei.
Da wurde und wird über eine Verschwörung westlicher Kräfte schwadroniert, über einen Dolchstoß von außen und was weiß ich nicht alles. Aber im Lauf der 1990er Jahre waren wir auf dem richtigen Weg, die Ereignisse einzuordnen und zu bewerten.
ORF.at: Und dieser Weg wurde verlassen?
Scherbakowa: Ja, die Staatsideologie durchdringt alles, sie äußert sich in vielen Belangen - und sie ist autoritär. Gerade was die Interpretation von historischen Ereignissen betrifft, verstrickt sich der Staat in Widersprüche. Die Revolution wird in ein schlechtes Licht gerückt. Erstens wegen des verlorenen Großreichs. Zweitens wegen des Wortes „Revolution“, das schon per se als negativ punziert wird. Jede Analogie zur heutigen Zeit ist unerwünscht.
Nur keine Umwälzungen, nach denen die Massen was zu sagen haben. Nur an nichts erinnern, was irgendwie mit linker Politik oder Radikalität zu tun hat. Nur das Schlagwort „soziale Gerechtigkeit“ nicht bemühen. Gerade „soziale Gerechtigkeit“ ist bei vielen immer noch etwas, was ihnen als prägender Begriff einer jahrzehntelangen Ära etwas bedeutet. Alleine das Wort „Revolution“ macht den Autoritäten im heutigen Russland deshalb Angst. Man will Ruhe und Stabilität.
ORF.at: Also die Revolution wird verteufelt, aber von der Sowjetära distanziert man sich nicht?
Scherbakowa: Ja, das ist ganz besonders absurd. Man ist zwar gegen die Revolution, nicht aber gegen den Sowjetstaat, der daraus entstanden ist. Überhaupt ist der Umgang der autoritären Führung des Landes mit der Sowjetvergangenheit ein völlig widersprüchlicher. Man lässt in Moskau ein Denkmal für die Opfer des politischen Terrors aufstellen - und an anderer Stelle wird ein Stalin-Denkmal wieder errichtet. Das Opfer dieser Unschlüssigkeit ist die junge Generation.
ORF.at: Und wie erinnert man sich an Lenin?
Scherbakowa: Auch da herrscht diese Unschlüssigkeit vor. Lenin wird als Person negativ bewertet - aber gleichzeitig belässt man ihn im Mausoleum, am zentralsten Platz von Moskau. Es gab Überlegungen, ihn zum Jahrestag der Revolution in ein Grab umzubetten, daraus wurde aber wieder einmal nichts.
Die Parole des offiziellen Russland lautet: Versöhnung zwischen den „Roten“ und den „Weißen“ von damals, man wollte deshalb ein Denkmal in Sewastopol aufstellen. Prompt haben die Erzkommunisten protestiert - die wollten das nicht. Die wollen keine Versöhnung. Also hat man auch das wieder sein lassen. Man tut sich in Russland schwer mit der Erinnerung und mit der Vergangenheitsbewältigung.
Das heißt nicht, dass sich nichts tut. Es gibt zahlreiche Projekte und Konferenzen. Da sind auch Projekte dabei, die sich an die Jungen richten. So werden etwa die Geschehnisse des Jahres 1917 in Form einer Facebook-Fortsetzungsstory erzählt, wo man den einzelnen Protagonisten folgen kann wie ganz normalen Facebook-Freunden, man holt sich die Revolution quasi nach Hause. Das Projekt ist zwar vom Niveau her etwas banal und manchmal kitschig, aber es wird von den Jungen angenommen. Ich halte das trotz aller Vorbehalte für ein wichtiges Schlüsselprojekt.
ORF.at: Wie ist der Umgang mit der Sowjetzeit in der Schule?
Scherbakowa: In den Schulbüchern werden die Verbrechen des Stalinismus nicht verschwiegen, es wird auch in den Klassen viel darüber gesprochen. Die Opfer werden genannt. Nur: Über die Täter wird nicht gesprochen, sie werden nicht benannt. Warum kam es zum Terror? Es fehlt eine schlüssige Erklärung für die Jungen. Wer sind die Schuldigen?
Wer Stalin nicht nennt, sondern ihn als Helden im „großen vaterländischen Krieg“ feiert und positiv bewertet, dann ist das, gelinde gesagt, kontrovers und zeigt die Hilflosigkeit der Autoritäten im Umgang mit der Vergangenheit. Man scheitert daran, ein gemeinsames Narrativ zu finden.
ORF.at: Sind die Russen sowjetnostalgisch?
Scherbakowa: In den 1990er Jahren waren sie es zum Teil, als sie von den wirtschaftlichen Reformen hart getroffen wurden. Heute kann man nicht mehr von einer richtigen Nostalgie sprechen. Es ist eher so, dass klare Zukunftsvorstellungen fehlen und das Bild einer idealen Gesellschaft in Russland, die man anstreben könnte. Deshalb klammern sich die Leute an die Vergangenheit, aber das ist keineswegs nur Nostalgie.
Und die heutige Führung missbraucht ihre Macht und füllt dieses Vakuum mit einer Mischung aus Nationalismus, Traditionalismus und Orthodoxie, die in der Vergangenheit verwurzelt sind und keinerlei Zukunftsperspektive in sich bergen. Wir haben mittlerweile zwei Generationen von Erwachsenen, die keine aktive Erinnerung mehr an die Sowjetunion haben. Sie sind nicht nostalgisch, sondern hängen einer rückwärtsgewandten Utopie an.
ORF.at: Sie haben als Akademikerin und Autorin in der Sowjetunion gelebt. Damals wie heute wurden Künstler und Intellektuelle unterdrückt. Kann man die Situation vergleichen?
Scherbakowa: Viele ziehen diese Parallele, aber meiner Meinung nach kann man die heutige Situation nicht mit damals vergleichen. Es werden zwar auch heute Freiheiten beschnitten, aber ganz anders als früher, etwa unter Breschnew, der die Meinungsfreiheit nach Jahren der relativen Offenheit wieder stark einschränkte. Intellektuelle kämpften darum, ihre Ideale zu verwirklichen, ob innerhalb oder außerhalb des Systems.
Es galt zunächst, die Brutalität eines Systems zu verringern, das innerlich immer morscher wurde. Das kann man nicht mit heute vergleichen, es gab damals überhaupt keine Freiheiten. Heute müssen wir versuchen, durch Bildung und Aufklärung den Kampf um die Demokratisierung Russlands zu führen. Wird Russland es schaffen, sich in eine funktionierende Demokratie zu verwandeln? Es herrscht diesbezüglich großer Pessimismus vor. Ich jedoch glaube daran.
ORF.at: Woraus nährt sich dieser Optimismus?
Scherbakowa: Es gibt vielleicht momentan wenig Hoffnung auf rasche Veränderung. Aber ich glaube, dass man etwas tun kann. Ich arbeite ja mit Memorial genau in diese Richtung - und zwar Gott sei Dank mit einigen jungen Menschen, die den Glauben an Veränderung ebenfalls nicht verloren haben.
Mir ist schon klar: Wir sind heute in der Minderheit. Aber so war das historisch gesehen schon oft, und dann hat sich trotzdem ganz plötzlich alles gewandelt, ob zum Guten oder zum Schlechten. Ich bin ganz einfach der Meinung, dass Russland keine Wahl hat, als den Weg der Demokratisierung zu gehen. Es wäre katastrophal, wenn Russland weiterhin immer diktatorischer wird - und zwar nicht nur für Russland, sondern auch für Europa.
Denn der Nationalismus in Russland hat Vorbildwirkung in Europa. Da fühlen sich die Autokraten nicht so allein, wenn sie Russland als großen Partner haben. Das ist gefährlich - nicht zuletzt auch für Österreich! Wenn ein so großes Land wie Russland für Nationalismus steht - das macht etwas mit den Menschen, auch im Westen.
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