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Dem Heimatbegriff dichtend auf der Spur

Vom 19. bis 21. Oktober finden in Wien die elften österreichischen Poetry-Slam-Meisterschaften statt. Für den Einzel-Bewerb hat sich auch der Syrer Omar Khir Alanam, der seit drei Jahren in Graz lebt, qualifiziert. Als der „Arabische Frühling“ seine Heimat erreichte, begann er zu schreiben. Wobei das mit dem Begriff Heimat nicht so einfach sei, sagt der 26-Jährige heute. Also slamt er darüber.

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Wenn er an sein früheres Leben denke, sagt Omar Khir Alanam und meint damit die Jahre vor seiner Flucht, deute nichts darauf hin, dass er einmal mit deutschsprachigen Texten auf einer Bühne stehen würde. „Ich habe in der Schule nie ein Talent für Fremdsprachen bewiesen, und sie haben mich auch nicht interessiert“, erinnert sich der gebürtige Syrer, während er in einem Cafe am Westbahnhof in seinem Glas rührt.

Vor zwei Wochen hat er in Graz den dritten Platz der steirisch-kärntnerischen Landesmeisterschaften im Poetry-Slam gewonnen. Da Meisterin und Vize bereits für den bundesweiten Bewerb qualifiziert waren, rückte er ins Teilnehmerfeld nach. „Ich kann es nicht ganz glauben“, sagt Khir Alanam, „aber ich bin glücklich.“

Poetry Slammer Omar Khir Alanam

Richard Griletz

Khir Alanam

Mit YouTube-Videos Deutsch gelernt

Khir Alanam wählt seine deutschen Worte mit Bedacht. Wenn ihm einmal ein Fehler unterläuft, merkt er das meist selbst. Dann fragt er nach, welches Partizip das richtige sei: gekämpfen oder gekämpft? Monatelang nämlich habe er gegenüber den Grazer Behörden um die Kostenübernahme für einen Deutschkurs gekämpft – ohne positiven Asylbescheid vergeblich. Also begann er, jeden Tag stundenlang mit YouTube-Videos zu lernen. „Ich lebe hier, und ich brauche doch die Sprache“, sagt Khir Alanam. Um sich zu unterhalten – und um zu schreiben.

„Wir haben Gewalt mit Blumen bekämpft“

Seine erste Berührung mit zeitgenössischer Literatur hatte Khir Alanam als 16-jähriger Schüler während einer geheimen Lesung in einem Einkaufszentrum in Damaskus. „Es ging um Liebe, und meine Wangen wurden rot“, erinnert er sich. Im ungeliebten Englischunterricht am nächsten Tag schrieb er sein erstes Gedicht in der Muttersprache Arabisch. Der Lehrer und die Mitschüler machten sich über ihn lustig, auch die Familie konnte seinen künstlerischen Ambitionen zunächst wenig abgewinnen. „Ich wollte schreiben“, sagt Khir Alanam, „aber es blieb alles oberflächlich. Ich hatte noch keine Geschichte.“

Das änderte sich im März 2011, als die Bewegung des „Arabischen Frühlings“ Syrien erreichte. Khir Alanam, begeistert von der Aussicht auf Demokratie und Selbstbestimmung, die er sich zuvor nicht einmal zu denken getraut hatte, schloss sich den regelmäßigen friedlichen Protesten an. „Ich habe alles in einem Moment erlebt: Liebe, Tod, Revolution“, sagt er. „Wir haben Gewalt mit Blumen und Gesang bekämpft. Auf einmal habe ich mir ganz neue Fragen gestellt: Was ist Freiheit? Was ist Identität?“

Jurymitglied hält eine Bewertungstafel in die Höhe

FOMP

So sieht es aus beim Poetry-Slam

Die Texte, die Khir Alanam damals, unter dem direkten Einfluss der Geschehnisse um ihn herum, schrieb, hält er für seine besten. Aus Angst vor dem Geheimdienst ließ er sie gut versteckt in seinem Elternhaus zurück, als er zuerst in den Libanon, dann in die Türkei und schließlich nach Österreich floh. Durch einen Bombeneinschlag wurden sie später verschüttet. „Wenn man mich heute fragt, was ich mitnehmen würde, wenn ich noch einmal fliehen müsste“, sagt Khir Alanam, „sage ich immer: mein Handy, mein Geld. Und meine Texte.“

Entdeckung eines neuen Formats

Aus dem Burgenland, wo er und vier seiner Freunde im November 2014 von der Fremdenpolizei festgenommen wurden, führten ihn die Wege der österreichischen Bürokratie zuerst in ein Bergdorf in Tirol und schließlich in einen Vorort von Graz. Dort las er vor einem Jahr von einem kostenlosen Schreibworkshop, den der bekannte Slammer Mario Tomic leitete und der in einem gemeinsamen Auftritt enden sollte.

„Ich habe damals gar nicht gewusst, was Poetry-Slam ist“, sagt Alanam. Schnell wurde ihm klar: Hier gab es eine Bühne für ihn und ein Publikum, das sich für seine Geschichte interessierte. Seitdem ist er immer wieder mit Prosatexten aufgetreten, hat in Zeitschriften und auf Websites veröffentlicht.

Einmal, erzählt Khir Alanam noch immer irritiert, sei er von der Veranstalterin einer Lyriklesung vorab darum gebeten worden, „nichts Politisches“ vorzutragen. „Aber wenn ich meine eigene Geschichte erzähle, wenn ich benenne, was ich unter einem Terrorregime erlebt habe – ist das politisch?“, fragt Khir Alanam. Dass ihm jemand, dessen Theorieverständnis sich auf die Regeln eines demokratischen Staates stützt, politisches Kalkül unterstellt, ist für ihn absurd. Bei Poetry-Slams, sagt er, da sei das anders. „Ich nehme meine Stärken, meine Schwächen und meinen Ärger mit auf die Bühne. Ich stehe dort so, wie ich bin.“

Österreichs „Slamily“ und die Politik

„Die österreichische Slam-Szene ist auffällig politisch“, sagt auch Henrik Szanto, Obmann des Wiener Bühnenliteraturvereins FOMP und künstlerischer Leiter des diesjährigen Ö-Slams. Das erkläre sich durch ihre geringere Größe und Professionalisierung im Vergleich zum deutschen Äquivalent. „In Österreich reagiert man tendenziell spontaner auf gesellschaftliche oder politische Ereignisse“, erklärt Szanto.

„Da sagt eher mal jemand: ‚Das kotzt mich richtig an, also haue ich jetzt einen raus.‘“ Weitere Besonderheiten der hiesigen Slam-Landschaft sieht der 29-Jährige in einem relativ hohen Altersdurchschnitt ihrer Protagonisten und in ihrer dichten Vernetzung. „Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist in Österreich ein größeres. Wir sehen uns als Slamily.“

Poetry Slammer Henrik Szanto

Pauline Cebulla

Poetry-Slammer und Organisator Szanto auf der Bühne

Die Anfänge dieser „Slamily“ reichen ins Jahr 2002 zurück: Markus Köhle rief damals im Innsbrucker Kulturzentrum Bäckerei den ersten Poetry-Slam ins Leben, der dort noch immer an jedem letzten Freitag im Monat über die Bühne geht. Gemeinsam mit Schwester Diana und Mieze Medusa etablierte er das Format, zuerst mit dem „textstrom“-Slam, in den folgenden Jahren auch in Wien. Gezielt mühte man sich hier um einen feministischen Anspruch, in dessen Tradition etwa viele der Texte von Yasmin Hafedh, inzwischen bekannter als Rapperin Yasmo, stehen.

Slam ist nicht gleich Slam

So dient Poetry-Slam auch als Sprungbrett in andere Bereiche: ins Kabarett, ins Schriftstellertum oder eben in die Musik. „Es ist eine Veranstaltungsform, die auch für Laien leicht zugänglich ist und ihnen hilft, ihre individuellen Fertigkeiten vor Publikum zu schulen“, sagt Szanto. Wodurch eine Vielfalt an Formen entstehe: Vom klassischen Storytelling bis zur Experimentallyrik sei auf Slam-Bühnen alles vertreten. „Was einen guten Slam-Text ausmacht, kann ich daher nicht pauschal sagen“, sagt Szanto.

Neben handwerklichen Kriterien spiele etwa die Authentizität eine Rolle. „Ein ruhig vorgetragener, durchdachter Text über die Gleichberechtigung von Mann und Frau kann genauso überzeugend sein wie eine schnelle, rapartige Schimpfrede auf die eigene Spülmaschine.“ All das und noch viel mehr, fasst Szanto nicht ohne Stolz zusammen, erhalte in der Slam-Kultur die Bühne, die es verdiene. Allein in Wien finden inzwischen durchschnittlich zwölf Veranstaltungen pro Monat statt.

Die eigenen Regeln des Bewerbs

Bei aller kultivierten Diversität behauptet ein Wettbewerbsformat aber notwendigerweise Vergleichbarkeit. „Die wenigsten Slammer, die regelmäßig auftreten, nehmen die Wertungen ernst“, sagt Szanto dazu. Schließlich hänge das Ergebnis immer auch vom Zufall ab: von der Startnummer, der Zusammensetzung und sogar der Laune des abstimmenden Publikums. „Der Wettbewerb ist bei fast allen Veranstaltungen in erster Linie ein Taschenspielertrick. Die Leute sollen mitfiebern.“

Ein wenig anders verhalte es sich freilich im Meisterschaftskontext, räumt Szanto ein: „So ein Titel bringt Prestige mit sich und kann Türen öffnen.“ Daher versuche man, den Einfluss des Zufalls zu minimieren. Die Entscheidung durch Münzwurf bei Punktegleichstand etwa wurde nach einem Eklat um Lisa Eckhart bei den deutschsprachigen Meisterschaften 2015 aus dem Regelwerk ausgeschlossen; in einem solchen Fall entscheidet nun die Jury.

Die besten Texte oft gleich zu Beginn

Im Vergleich zu den Vorgängerveranstaltungen hat sich überhaupt einiges getan: Erstmals in der elfjährigen Geschichte des Ö-Slams treten diesmal in den drei Vorrunden des Einzel-Bewerbs mehr Frauen als Männer an. Auch die Integration des Team-Bewerbs ist ein Novum. Als Teil des Rahmenprogramms findet am Samstag ab 15 Uhr im WUK ein ORF-„DialogForum“ zum Thema „Links, rechts oder bequem?“ statt.

Gefragt nach seiner Empfehlung für Slam-Neulinge sagt Szanto: „Ich rate allen, nicht nur zum Einzel-Finale, sondern zu wenigstens einer der Vorrunden ins Schwarzberg zu kommen. Dort hauen viele ihre besten Texte raus, weil sie ja unbedingt weiterkommen wollen.“

Texte, die Unrecht benennen

Bei der dritten und letzten dieser Vorrunden, die am Freitag um 18.30 Uhr beginnt, tritt auch Khir Alanam an. Seinen Startplatz im zehnköpfigen Konkurrentenfeld erfährt er erst nach der Auslosung am Abend. Welche Texte er nach Wien mitbringen werde, müsse er sich noch überlegen, sagt er. Nur einer stehe bereits fest: „Der dreht sich um eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird, nämlich: ‚Woher kommst du?‘“

Die meisten, berichtet Khir Alanam und streicht sich dabei eine seiner dunklen Locken aus dem Gesicht, hielten ihn für einen Südeuropäer oder Südamerikaner. Wenn er korrigierend erkläre, er sei in Damaskus aufgewachsen, reagierten manche überrumpelt, andere mit: „Cool!“. Das sei aber alles andere als cool, antworte er dann. Wobei: Er formuliert es ein wenig anders.

„Systematisch erniedrigt“

Ab und zu verwendet Khir Alanam ein geläufiges deutsches Schimpfwort: wenn er über seine Arbeitsbedingungen in einer Schuhfabrik in Istanbul spricht zum Beispiel. „Ich könnte versuchen, es anders zu beschreiben, aber das würde die Situation verharmlosen“, sagt er. „Ich bin systematisch erniedrigt worden.“

Und so wie ihm, das will Khir Alanam sichtbar machen, ergehe es vielen Menschen an unterschiedlichen Orten der Welt. Einer seiner Texte trägt den Titel „Afghane“ und ist den nach Kabul überführten deutschen Asylwerbern gewidmet. „Du bist der, der einmal ins Exil abgeschoben wird und einmal in den Krieg“, heißt es darin. Und: „Du bist der Mann, der nicht Geld, sondern einen Namen erbettelt.“

Angekommen in der Kultur

In der österreichischen Slam-Szene hat sich Khir Alanam längst einen Namen gemacht. Am Wochenende ist er beim „textstrom“-Slam in der Wiener Brunnenpassage aufgetreten. Hinterher habe ihn ein Syrer aus dem Publikum angesprochen und sich mehrfach dafür bedankt, dass er ihre gemeinsame Geschichte öffentlich mache. „Da war ich sehr glücklich“, sagt Khir Alanam wieder, der sich auch als Vermittler sieht.

Dass die Perspektiven in seinen Texten zwischen „ich“, „du“ und „wir“ changieren, ist also kein Zufall. Die immer neu erhobenen Ansprüche des Autors bewegen sich in den Bereichen Zeugenschaft, Anklage und Neuidentifikation. „Wer selbst keine Fluchterfahrungen gemacht hat, der kann kaum nachvollziehen, was uns passiert ist“, sagt er, „und er kann vor allem nicht darüber schreiben.“

Heimat, ein dehnbarer Begriff

Eine immer wiederkehrende Zeile in einem seiner Prosatexte, der sich um die versuchte syrische Revolution dreht, lautet: „Ich wollte diese Heimat stürzen, diese Hölle von Heimat.“ Am Wiener Westbahnhof, an dem Khir Alanam später den Flixbus nach Graz nehmen wird, setzt er zu einem neuen Definitionsversuch an. „Heimat“, sagt er, „das war der Balkon, auf dem ich im Libanon gewohnt habe. Das ist, wenn ich schreibe. Heimat ist dort, wo ich mich verlieben kann.“ Und vielleicht, das lässt sich hinzufügen, ist Heimat auch dort, wo man eine Stimme hat.

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