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Die Un-Realos

„Mei Wien is ned deppert.“ So hat Wiens Bürgermeister Michael Häupl (SPÖ) eine Haltung im Elektorat der Bundeshauptstadt auf eine deftige Formel verkürzt: dass nämlich die progressive Wählerschaft der Bundeshauptstadt eher der SPÖ das Ergebnis rettet als den Grünen. Was im Moment bei aller grünen Fehlersuche vergessen wird: Die Ökopartei mit dem breiten Programm ruhte über Jahre hinweg auf einer geborgten Wählerbasis.

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Ein Treppenwitz des Wahlwochenendes in der Bundeshauptstadt geht so: Treffen sich drei Bobos am Tag vor der Wahl auf einen Kaffee und diskutieren über ihre „Unentschlossenheit“ bis zur letzten Minute. „Was tun?“, so ihre Frage. Einig sind sich die drei nur in einem: Sie wollen keine schwarz-blaue Koalition und „nicht schuld sein“. Sie beschließen einen taktischen Wahlpakt: Eine Person wählt Liste Pilz, eine die Grünen, eine SPÖ. Am Sonntagabend hören sich die drei. „Und, was hast du gewählt?“ Die Antworten: Alle drei haben für die SPÖ gestimmt.

Die geborgte Wählerschaft

Der Witz bringt für Wien eine Situation auf den Punkt, die durchaus auf ganz Österreich übertragbar ist: Die Wählerschaft der Grünen ist eine geborgte Wählerschaft. Das bestätigt auch Wahlforscher und Politologe Peter Filzmaier gegenüber ORF.at: „Die Grünen haben sich über die Jahre täuschen lassen von der guten Behalterate, die sie unter den Wählern hatten.“ Was die Grünen nämlich nicht hätten, so Filzmaier: „Stammwähler“. Die Grünen seien in Wien immer von einer sehr schwachen ÖVP begünstigt worden, so Filzmaier, der die Hauptwahlgruppe der Grünen eher im Segment der im weitesten Sinne „strukturkonservativen“ Wählerschaft verortet. „Mit den linken Fundis sind sie jetzt dort, wo sie prozentmäßig sind“, könnte man laut Filzmaier überspitzt sagen.

Gerade das Auftauchen von NEOS und die Repositionierung der ÖVP haben den Grünen zu schaffen gemacht - besonders in der Bundeshauptstadt, wo man davor klassische ÖVP-Bezirke wie Neubau, Josefstadt, Alsergrund und Währing auf die grüne Seite bekommen hatte.

Grafik zum Wahlverhalten nach Bildung und Geschlecht

Grafik: ORF.at; Quelle: SORA

Die ÖVP hat bei dieser Wahl unter Kurz die Bildungsschichten zurückgeholt. Nicht nur beim Matura-, auch beim Universitätsabschluss konnte die Partei punkten.

Die soziodemografische Villa Kunterbunt

In Wien hängt das Wachsen des Elektorats für Grün mit ein paar Umständen zusammen. Es sind die besser gebildeten Kinder der Kreisky-Zeit, die kein Angebot links der Mitte finden, es sind auch die Kinder der Bürgerlichen, dann deren Eltern selbst, für die die ÖVP in der Zeit nach Erhard Busek in der Stadt keinen Hauch einer bürgerlich-urbanen Partei mehr hatte. Sie trafen sich in ihrem Wahlverhalten mit vielen anderen Gruppen: ökologisch Bewegten, Anti-Atom-Proponenten (bis zurückreichend in die Zwentendorf-Hainburg-Zeit), Anti-Establishment-Gruppen, Anti-Überwachungsstaat-Aktivisten u. v. a.

Wahlgrafik

ORF.at

Die zur SPÖ abgewanderten grünen Stimmen bei der Nationalratswahl. Auch an die ÖVP haben die Grünen Zehntausende Stimmen „zurückgegeben“.

Erhellend auch der Blick in die Bundesländer: Die Salzburger Bürgerliste mag ja vom Elektorat vielfältig aufgestellt gewesen sein - eine „linke“ Partei war sie historisch nie. Eher die einer Zivilgesellschaft, in der man schon als progressiv auffiel, wenn der eigene Mantel nicht aus Loden war. Für die Grünen gab es auf Bundesebene, das wurde bis zuletzt deutlich, eine West-Ost-Spaltung: da die bürgerlichen Realo-Grünen Vorarlbergs, hier die Ex-Uni-Kader-Partei der Wiener Grünen, die von Realos im Chorherr-Zuschnitt überdeckt wurde.

Wer sich an die Debatten einer Öffnung der Grünen im Jahr 2002 Richtung Schwarz erinnert, konnte bemessen, wie vielfältig die Koalition der Interessen - und damals schon Funktionäre - unter dem grünen Regenbogen war. Manches erinnerte schon damals sehr an die SPÖ, obwohl sonst alles scheinbar basisdemokratisch war.

Die beachtliche Öffnung der „Single-Issue-Party“

Das Programm der Grünen im Lauf der Jahrzehnte reflektiert diese „Buntheit“ der Wählerschaft. „Das Bemerkenswerte an den Grünen“, sagt Filzmaier, „bleibt der Umstand, dass sie eigentlich eine Single-Issue-Party sind, die sich alle anderen Themen erobert haben.“ Das aber konnte auch zum Bumerang werden, vor allem, seit mit Alexander Van der Bellen und Eva Glawischnig Persönlichkeiten mit überdurchschnittlicher Strahlkraft weg sind. „Die Teamstrategie der Grünen ist ein schöner Gedanke, nur halt kein zugkräftiger“, spielt Filzmaier auch auf den Umstand an, dass die Marke Peter Pilz eine absolute Deckung zwischen Person und Programm hatte.

Die Ära Van der Bellen deckte vieles zu, was schon damals wie eine dauerhafte Zerreißprobe aussah. Immer wieder herausragend: Abgeordnete, die sich mit Lust in die Sacharbeit verbissen. Es waren die mittlerweile oft als Silberrücken titulierten Alt- bis Mittelaltgesteine, aber auch Junge: Peter Pilz, Werner Kogler, Karl Öllinger, Gabriela Moser, Albert Steinhauser. Sie fielen auf im Parlament. In den Regionen wurde Realpolitik gemacht: Wohnbau, Verkehrspolitik, Stadtplanung. Mitunter von einiger medialer Aufregung geprägt - Stichwort „Begegnungszonen“.

Im Hintergrund hielten einige wenige Personen die Strukturen zusammen - parteiintern meistens unbedankt. Namen wie Reinhard Pickl-Herk, Lothar Lockl, Stefan Wallner, Martin Radjaby oder Oliver Korschil findet man nicht mehr als Mitarbeiter für die Partei. Masochismus war dann doch keine dauerhafte Berufsperspektive.

„Für“ statt „gegen“ etwas sein

Dass die Grünen sehr oft als Partei wahrgenommen würden, die mehr „gegen“ als „für“ etwas ist, spiegelte sich auch bei den Anfragen an Ulrike Lunacek für die ORF.at-Wahlcouch. Lunacek bekannte, mehr das Gelingen als das Verhindern kommunizieren zu wollen. Für diese Wahl war es offenbar nicht ausreichend.

Chorherr: „Wir wirken oft belehrend“

Christoph Chorherr, der ehemalige Bundessprecher der Grünen, spricht von seiner Enttäuschung über das Wahlergebnis, mögliche Fehler der Partei und Pläne für die Zukunft.

Die Grünen müssten wieder „lustvoll“ kommunizieren, für welche Projekte sie stünden, welche sie realisierten - und mit anderen Meinungen ins Gespräch kommen, fordert der Wiener Grüne Chorherr vehement in einem aktuellen Blogbeitrag. Allein, nicht immer lasse sich das leicht ausmachen.

Fehlermeldung auf der Webseite der Grünen

Screenshot

An der Wiederherstellung wird gearbeitet - auf Bundesebene mit einem großen Fragezeichen

Wer könnte sich etwa an eine Position der Grünen in Kulturfragen erinnern? Wolfgang Zinggl, der das immer noch gültige Kulturprogramm der Grünen geschrieben hat, sitzt jetzt im Klub von Pilz im Parlament - und will dort, wie er sagt, „grüne Kulturpolitik weitermachen“. Worin die bestand in den letzten vier Jahren neben einem Weißbuchvorschlag zur Neuausrichtung von KHM und Co.? Gebarensprüfung der Bundestheater und -museen - und mediale Beförderungen der Rücktritte von Peter Noever, Matthias Hartmann, Agnes Husslein und Gerald Matt.

„Noch eine Chance“

Für Filzmaier haben die Grünen noch „eine Chance“, bei der nächsten Wahl punkten zu können. Er erinnert dabei an die FDP, die im Gegensatz zu den Grünen neben der Bundesebene aus vielen Landtagen geflogen sei. Allerdings, so erinnert Filzmaier, hat die FDP medial eine deutliche Führungsfigur vorzeigen können - die er bei den Grünen im Moment nicht wahrnehmen könne.

Im Moment müsse man zunächst einmal bei den vier anstehenden Landtagswahlen über die Runden kommen und hoffen, doch noch in den Landesregierungen vertreten zu sein. „Sowohl in Salzburg als auch in Kärnten müssen die Grünen damit rechnen, das extrem hohe Niveau der letzten Wahlen, das externen Faktoren geschuldet war, zu verlieren.“ Und wenn man in Niederösterreich nicht den Einzug schaffe, dann drohe den Grünen insgesamt, in keiner Landesregierung mehr vertreten zu sein. Nachsatz: „Dann wird es für die Grünen strukturell sehr schwer.“

Wenig Zeit für Neuaufstellung

Erst wenn diese Wahlen, die schneller auf die Grünen zukommen könnten, als sie glaubten, überstanden seien, könne man sich Gedanken wie eine Neugründung machen. Und auch die Führungsfrage entscheiden. Wie die Partei der Zukunft ausgerichtet sein sollte, beantwortete einer der Urväter der Grün-Bewegung indirekt. „An einer weiteren ‚stinknormalen Partei‘ besteht in der Bevölkerung kein Bedarf. Noch immer nicht begriffen? Grün war ein anderes Versprechen!“, schreibt ein zorniger Johannes Voggenhuber auf Facebook.

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