„Es geht um Schönfärberei“
Ein Europa am Scheideweg zwischen Abschottung und stärkerer Zusammenarbeit - diese Streitfrage gilt als die große Bewährungsprobe für die EU. Einige osteuropäische Staaten scherten bei großen Fragen zuletzt aus. Im ersten Halbjahr 2018 liegt der Fokus auf den südöstlichen Randposten der Union - Bulgarien übernimmt die Ratspräsidentschaft. Doch wie sieht man sich im Land selbst? ORF.at hat ein Stimmungsbild eingeholt.
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Seit fast elf Jahren ist Bulgarien EU-Mitglied. Nach wie vor ist das Land das ärmste der Union, wegen Defiziten beim Kampf gegen die Korruption und gegen das organisierte Verbrechen steht man unter Sonderbeobachtung der EU. Ansonsten fristet das Land eher ein Schattendasein, dabei genießt die EU unter den Bulgaren ein recht hohes Ansehen. Ab 1. Jänner bekommt Sofia aber die Chance, sich nach außen hin ordentlich Profil und Gehör zu verschaffen - ähnlich, wie das Estland zuletzt gelang.
„Wie ein EU-Gründungsmitglied“
Beim jüngsten Treffen von Jean-Claude Juncker mit dem bulgarischen Regierungschef Boiko Borrisow in Brüssel wurde das Motto betont: „United we stand strong“ (dt.: Gemeinsam sind wir stark) soll die Einheit der EU beschwören. Juncker schwärmte davon, dass der jährliche Bericht zur Überprüfung der Justiz im Land „sehr positiv“ ausfalle. Auch lobte er die „sehr geringe Staatsschuld“ und ein ausgeglichenes Budget. „Bulgarien verhält sich wie ein Gründungsmitglied der EU, während sich Gründungsmitglieder nicht so verhalten“, so Juncker.

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Juncker mit „Freund“ Borrisow in Brüssel: Schengen-Beitritt und Euro-Einführung heißen die ambitionierten Ziele
„Keine Ahnung“
Doch im Land selbst herrscht auf Expertenebene deutlich weniger Euphorie als bei Juncker und seinem „Freund“ Borrisow. Das mit Abstand größte Thema seien im Vorfeld die Auswahl der Veranstaltungsorte für die EU-Gipfel und Ministertreffen im Land gewesen. „Es geht vorwiegend um Schönfärberei“, meint der Politologe Martin Vladimirow vom Zentrum für Demokratiestudien (Center for the Study of Democracy, CSD), einem Think Tank in Sofia, gegenüber ORF.at.
Die Politik sei in der langen Vorbereitungszeit mit Vergabeskandalen beschäftigt gewesen anstatt mit Schlüsselfragen der Präsidentschaft. Dabei - das betonte auch Borrisow - wird es um wichtige Entscheidungen gehen, die auch Bulgarien betreffen, wie etwa das Thema Migration, Fiskal- und Energieunion sowie die Integration des Westbalkans. Minister gäben auch jetzt nur sehr allgemein über die Agenda der Präsidentschaft Auskunft, so Vladimirow. Die Regierung habe „keine Ahnung“. Gleichzeitig möchte sie sich jetzt im besten Licht präsentieren, sagen Beobachter.
Zwei Wirklichkeiten
Das grundlegende Problem sei ein zumindest auf einer Seite nicht bemerktes Missverständnis zwischen Bulgarien und der EU - Vladimirow sieht „unterschiedliche Realitäten“. Das mache das Verhältnis zwischen Sofia „dysfunktional“ und in den Augen mancher „heuchlerisch“. Für den Experten besteht in solchen Diskrepanzen und Missverständnissen neben konkreten Meinungsverschiedenheiten etwa über den Umgang mit Flüchtlingen auch die größte Bedrohung für die EU.
An der Oberfläche scheint es perfekt zu laufen, doch „hinter den Kulissen“ sehe es anders aus. „Es geht nur um das Abarbeiten von Checklisten, aber nicht um die tatsächliche Umsetzung“, so Vladimirow. Die öffentlichen Mittel befänden sich in den Händen einiger weniger, es gebe schwere Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Förderungen. Praktisch alle Bereiche seien betroffen.
EU als Cashcow
Bulgarien habe gegenüber der EU bisher politisch immer nur reagiert und nie agiert. „Selbst bei Themen, die nationale Interessen betrafen, überließ man Entscheidungen den großen EU-Ländern“, meint Vladimirow. Die EU sei als Cashcow gesehen worden, Förderungen seien vor allem für infrastrukturelle Schlüsselprojekte geflossen, was vor allem Unternehmen mit Nähe zur Regierung zugutegekommen sei. Das habe das System der Korruption befeuert und echten Wettbewerb verhindert.
Der Grund für den Beitritt sei oftmals in der Bewahrung der Region vor russischem Einfluss gesehen worden. Auch sei es nach Ansicht vieler eher um die Stabilisierung des Westbalkans gegangen als um handfeste politische und wirtschaftliche Gründe. Bulgarien befinde sich hier in einem Cluster mit Rumänien. „Unglücklicherweise hat sich an diesem Image nicht viel verändert“, so Vladimirow. Rumänien habe im Unterschied zu Bulgarien in Sachen Korruptionsbekämpfung oder gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln mehr unternommen.
Maulkorb für Vereinte Patrioten
Für Wirbel in Brüssel sorgte bereits die Bildung der bulgarischen Regierung vor einigen Monaten: Mit Beunruhigung musste man zur Kenntnis nehmen, dass Wahlsieger Borissow von der konservativen GERB-Partei die Vereinten Patrioten in seine Koalition mitnahm. Dabei handelt es sich um ein Bündnis dreier teilweise offen rechter und minderheitenfeindlicher Parteien. Da das Bündnis auch Minister stellt, werden diese auch im EU-Rat eine Rolle spielen. Beobachter im Land meinen aber, diese hätten im Vorfeld einen Maulkorb aufgesetzt bekommen.
Experte Vladimirow sieht im Aufstieg rechtspopulistischer Parteien längst einen „Teil der Norm“ in der EU, viele befänden sich bereits in einflussreichen Positionen. Wirklich gefährlich seien die Verbindungen dieser bulgarischen Parteien zu Russland, auch finanziell. Die wirkliche Gefahr gehe vom Umstand aus, dass diese Parteien Einfluss auf die EU-Politik nehmen können. Diese „Stellvertreter“ Russlands hätten sich bereits in der Vergangenheit für deren wirtschaftliche Interessen (etwa das „South Stream“-Projekt) starkgemacht. Bereits ein Viertel der bulgarischen Wirtschaft sei direkt oder indirekt russisch kontrolliert.
Flüchtlingspolitik als „PR-Gag“
Die Bulgaren würden sich jedenfalls für Europa entscheiden, wenn sie vor die Wahl zwischen der EU und Russland gestellt würden. Die EU-Flüchtlingspolitik habe den Blick der Öffentlichkeit aber etwas von der EU abgewendet, so Vladimirow. Generell habe sich die öffentliche Sicht auf die Frage jener in Ländern wie Ungarn und Polen angenähert. Auch die bulgarische Regierung habe diese Stimmung übertragen, es habe politische Treffen gegeben – „ein PR-Gag“, wie Vladimirow meint. Beobachter meinen zudem, dass sich die roten Linien bei diesem Thema im Hinblick auf die anstehende Rolle im Rat aufgeweicht haben.
Unterschiedliche Interessen
Apropos Osteuropa: Eine einheitliche Haltung für die Interessen der Osteuropäer gegenüber Brüssel, Paris und Berlin gibt es nicht - schließlich weicht die Haltung Bulgariens von jener der anderen EU-Länder in der Region teilweise deutlich ab. Während es in Rumänien und Kroatien ähnliche Bemühungen hinsichtlich eines immer engeren Zusammenschlusses in Europa gibt, haben sich in anderen Ländern vor allem durch die politische Ausrichtung der dortigen Regierungen Unterschiede verfestigt.
So sagte etwa Sofia im Sommer das Vorhaben zu, dem Wechselkursmechanismus II, einem „Wartezimmer“ zur Euro-Einführung, beizutreten. Von der bulgarischen Regierung wird dieses Thema wie auch der Beitritt zum Schengen-Raum forciert und ist mit Hoffnungen verbunden. Hingegen nehmen Länder wie Polen und Ungarn in diesen Fragen völlig andere Standpunkte ein. Generell sehen die Regierungen in Warschau und Budapest in einer stärkeren Integration durchaus die Gefahr eines dadurch zusätzlich gestärkten Brüssels.
Hohe Zustimmungsraten
In Bulgarien, aber auch Rumänien und Kroatien geht die Erwartungshaltung in der Bevölkerung klar in Richtung Beitritt zur Euro-Zone: Wie der aktuelle Euro-Barometer ausweist, spricht sich in allen drei Ländern eine Mehrheit der Bevölkerung für die Einführung des Euro aus - in Bulgarien und Kroatien ist es immerhin die Hälfte der Befragten. In Rumänien gibt es mit 64 Prozent eine höhere Zustimmung, auch das Vertrauen in die EU ist dort mit 57 Prozent vergleichsweise hoch.
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Valentin Simettinger, ORF.at, aus Brüssel