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„Wien ist mein Mittellebenspunkt“

Im Wien Museum sind rund 700 Objekte aus der Lebensgeschichte von Wiener Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern zusammengetragen worden. Die Schau „Geteilte Geschichte. Viyana - Bec - Wien“ erzählt nun, wie ihre ehemaligen Besitzer nach Österreich gekommen sind, wie sie gewohnt, gearbeitet und gefeiert haben, und wie sie die Sehnsucht nach ihrer Heimat bewältigt haben.

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Er war erst 17 Jahre alt, aber er sah es als seine Pflicht, für das Wohl der Familie die Türkei zu verlassen und im Ausland Arbeit zu suchen. In Wien plagte Ali Gedik heftiges Heimweh, und so besprach er für die Verwandten Kassetten. Für die Aufnahme der Antworten trommelten seine Eltern auch die Nachbarn zusammen. „Auf einmal war da das halbe Dorf zu hören und die Stimme der Mutter so nah, als stünde sie neben mir“, erinnert sich der Pensionist gerührt.

Fussballmannschaft Ataspor am Fussballplatz Südost 1981

privat

Fußballmannschaft Ataspor auf dem Fußballplatz Südost 1981

Gut getarnte Hörbriefe

Da unter der türkischen Militärdiktatur die kurdische Sprache verboten war, überspielten Gedik und seine Angehörigen Musikkassetten. Für den Fall, dass die Post kontrolliert würde, ließen sie immer zu Beginn und am Ende eines Bandes etwas Musik stehen. Nun hängt der altmodische Tonträger als Teil der Schau „Geteilte Geschichte. Viyana - Bec - Wien“ im Wien Museum, und sein ehemaliger Besitzer spricht in einem der Filminterviews, die die Regisseurin Karin Berger produziert hat.

Durch die Anwerbeabkommen, die das wirtschaftlich boomende Österreich 1964 mit der Türkei und 1966 mit Jugoslawien abschloss, strömten Arbeitskräfte nach Wien. Das Wien Museum hat deren Geschichte 2004 gemeinsam mit der Initiative Minderheiten in der Schau „Gastarbaiterj“ erforscht, allerdings flossen damals keine Exponate in den Bestand. Die jetzige Ausstellung basiert auf dem 2015 gestarteten Projekt „Migration Sammeln“, durch das die Einwanderungshistorie nun auch materiell im Museum verankert wird.

Lilienporzellan Teller mit Aufschrift "1. Keller-Hausbesorger-Wohnung 74-75-76"

Wien Museum / Foto von Vasilija Stegic

Lilienporzellan-Teller mit der Aufschrift „1. Keller-Hausbesorger-Wohnung 74-75-76“

Rap gegen Ausländerhass

Man wisse ja in der Regel wenig über die früheren Besitzer musealer Objekte, betonte Museumsdirektor Matti Bunzl bei der Eröffnung. „Aber durch die Filminterviews werden diese Menschen auch noch in 200 Jahren bei uns sein, weil sie ihre Geschichten mit uns geteilt haben.“ Bei der Eröffnung griffen auch der Hip-Hop-Musiker Kid Pex und das Geschwisterduo EsRaP mit Sprechgesang gegen Diskriminierung zum Mikrofon.

In einem der Songs heißt es: „Österreich lud meinen Großvater zu einem Spiel ein namens ‚Der Gast ist König’/(...) Gehackelt den ganzen Tag für Mindestlohn/dein Leben, ein langer schwerer Marathon“; und weiter: „Die Doppelmoral in euren Schädeln/Auch noch nach so vielen Jahren/gelten für uns andere Regeln/Uns’re Kids in Ghettoklassen - das ist euer Staat“; Die Conclusio wurde bereits vorangestellt: „Wir sind gekommen, um zu bleiben/Bleiben sichtbar und laut“

„Die wollten keinen Kontakt mit uns“

Der Ausstellungstitel „Geteilte Geschichte“ ist bewusst zweideutig gewählt: Einerseits geht es um das (Mit-)Teilen von Lebensgeschichten, andererseits wird auch das abgetrennte Leben der Migrantinnen und Migranten deutlich. Wenn Zorica Mijatovic im Interview über ihre Klassenfotos von Anfang der 1970er Jahre spricht, dann bildeten die sechs „Ausländerinnen“ unfreiwillig eine Gruppe. „Die österreichischen Mädchen wollten keinen Kontakt mit uns, und für die Lehrer mussten wir doppelt so viel können, um eine gleich gute Note zu erhalten.“

Peter Mijatovic mit Kollegen auf einer Baustelle in Wien, um 1969

privat

Peter Mijatovic mit Kollegen auf einer Baustelle in Wien, um 1969

Ausstellungshinweis

„Geteilte Geschichte. Viyana - Bec - Wien“, Wien Museum Karlsplatz, bis 11. Februar 2018

Wettlauf zu Titos Geburtstag

Kein Wunder, dass die Eingewanderten bald eigene Orte der Zusammenkunft schufen. „Die vielen Vereine waren Orte der Selbstorganisation und des Zusammenhalts“, schildert Ausstellungskuratorin Vida Bakondy. Die jungen Arbeiter trafen sich zunächst noch am Südbahnhof - wie ein gelungenes Foto des jugoslawischen Pressefotografen Jovan Ritopecki zeigt - aber bald entstanden eigene Clubs.

Bis heute existiert der Kultur- und Sportverein Jedinstvo, der früher Jugoslawiens Feiertage hochhielt und etwa den Geburtstag von Präsident Tito mit einem Jugendwettlauf beging. Niko Mijatovic hat dem Wien Museum eine Tafel mit der aufgemalten kommunistischen Flagge geschenkt, die bis zum Beginn der Jugoslawien-Kriege Anfang der 1990er Jahre die Vereinswand zierte. Er sei froh, sagt Mijatovic, ein Stück Geschichte für das Museum gerettet zu haben; schließlich sei Wien heute sein „Mittellebenspunkt“.

Transparent für Kommunales Wahlrecht des Vereins für österreich-türkische Freundschaft

Lisbeth Kovacic

Transparent für Kommunales Wahlrecht des Vereins für österreich-türkische Freundschaft

Hungerstreik für Wahlrecht

Ein beliebter Treffpunkt waren auch die Fußballmatches der Mannschaften, die türkische und jugoslawische Vereine gründeten. „Sport, insbesondere Fußball, war sehr wichtig für das soziale Leben“, sagt Kokurator Gerhard Milchram. Eigene Ligen wurden auch deswegen gegründet, weil die „Ausländerklausel“ die Einwanderer von Meisterschaften ausschloss.

„Ich war eine sehr selbstbewusste Arbeitertochter, und Rechte gehören erkämpft“, stellt sich Nurten Yilmaz im Filminterview vor. Sie hat zur Schau ein Transparent mit der Forderung nach dem kommunalen Wahlrecht beigesteuert. Der Anspruch auf politische Mitbestimmung, für die Mitglieder des Österreich-Türkische Freundschaftsvereins 1981 sogar in Hungerstreik traten, wurde bis heute nicht eingelöst.

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