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Gräben in Spanien nun noch tiefer

Der politische Konflikt über die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien ist am Sonntag bei dem umstrittenen Referendum mit Gewalt auf den Straßen eskaliert. Auf Anweisung aus Madrid hatte die spanische Polizei teilweise gewaltsam versucht, die Wahllokale abzuriegeln und die Menschen an der Stimmangabe zu hindern. Sogar Gummigeschoße wurden eingesetzt. Die Bilder der Gewalt sorgten nicht nur in Katalonien für Entsetzen - und wurden zum Fiasko für Madrid.

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Schon seit den Morgenstunden griffen die von Madrid entsandte paramilitärische Guardia Civil und die Nationalpolizei teilweise sehr hart durch. Sie versuchten, Wähler energisch am Zugang zu den Urnen zu hindern. Bis zum Abend wurden nach amtlichen Angaben 844 Menschen verletzt, darunter einige schwer. Auch 33 Polizisten wurden verletzt. Auf Fotos und Videos war zu sehen, dass die Polizei in der Tat zum Teil auch Gummigeschoße einsetzte. Beamte schlugen und traten auf Bürger ein, die sich friedlich vor den Wahllokalen versammelt hatten.

Weitgehend friedliche Proteste

Mehrere Menschen bluteten im Gesicht, darunter auch ältere Bürger. Über Barcelona kreisten Hubschrauber. Die meisten Menschen reagierten friedlich auf die Aktionen der Polizei, hielten ihre Hände in die Höhe und stimmten Lieder an. Einige gingen mit Blumen in den Händen auf die Sicherheitskräfte zu. „Wir sind friedliche Leute!“, riefen die Bürger in Sprechchören.

Polizeieinsatz in Barcelona

APA/AP/Emilio Morenatti

Die Polizei ging mit Gummigeschoßen gegen Wähler vor

Für die Gewalt wurde in erster Linie die Guardia Civil verantwortlich gemacht. Sie ist seit der Unterdrückung der Region unter dem Franco-Regime in Katalonien äußerst unbeliebt. Die katalanische Regionalpolizei Mossos d’Esquadra, die in der Region verwurzelt und angesehen ist, war vor dem Referendum Madrid unterstellt worden. Dem Befehl, Schulen und andere Wahllokale abzuriegeln, kam sie in der Früh dennoch nicht nach und blieb passiv.

In Girona vertrieben Polizisten Menschen gewaltsam aus dem Wahllokal. Katalanische Feuerwehrleute stellten sich schützend zwischen die Menschen und die Polizeikräfte. In Videoaufnahmen aus Barcelona war zu sehen, wie Polizisten auf Befürworter des Referendums eintraten und diese an den Haaren zogen.

Konfrontation von Guardia Civil und Polizei

Reuters/Juan Medina

Feuerwehrleute als Puffer zwischen Polizei und Wählern.

„Haben Recht auf Unabhängigkeit gewonnen “

Der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont sagte, die Sicherheitskräfte hätten auch Gummigeschoße und Schlagstöcke gegen friedliche Bürger eingesetzt. Er sprach von einem „ungerechtfertigten, irrationalen und unverantwortlichen“ Gewalteinsatz. In Richtung der Regierung des spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy sagte er: „Es ist alles gesagt, die Schande wird sie auf ewig begleiten.“

Am späten Abend beanspruchte Puigdemont das Recht auf Unabhängigkeit seiner Region. „Wir haben das Recht gewonnen, einen unabhängigen Staat zu haben“, sagte er in Barcelona. Die Separatisten hätten am Wahltag nicht „nicht nur ein Referendum, sondern viele Referenden gewonnen“. Millionen von Menschen seien ungeachtet der Polizeigewalt in der ganzen Autonomen Gemeinschaft auf die Straßen und zu den Urnen gegangen, betonte er.

Rajoy: „Gab kein Referendum“

Ministerpräsident Rajoy erklärte am Abend, es habe kein Unabhängigkeitsreferendum gegeben. Die Katalanen seinen getäuscht worden, an einer illegalen Abstimmung teilzunehmen. Die katalanischen Spitzenpolitiker hätten gewusst, dass das Referendum illegal gewesen sei und trotzdem weitergemacht. Die meisten Katalanen hätten sich nicht beteiligen wollen.

Er dankte der Polizei für ihren Einsatz. Die katalanische Regionalregierung rief er dazu auf, nicht mehr einen Pfad zu verfolgen, der nirgends hinführe. Er selbst werde sich keiner Gelegenheit zum Dialog verschließen, aber man müsse sich im Rahmen des Gesetzes bewegen. Er werde ein Treffen aller politischen Parteien ansetzen, um gemeinsam über die Zukunft nachzudenken. So schnell wie möglich müssten harmonische Verhältnisse wieder hergestellt werden.

„Einsatz verhältnismäßig“

Die stellvertretende Regierungschefin Soraya Saenz de Santamaria von der konservativen Volkspartei hatte zuvor gesagt, der Einsatz der Polizei sei aufgrund der „Verantwortungslosigkeit“ der Regierung in Barcelona nötig und auch „verhältnismäßig“ gewesen. Sie bezeichnete die Abstimmung als „Farce“.

Juristisches Nachspiel

Ein Sprecher der katalanischen Regionalregierung kündigte juristische Schritte gegen die Zentralregierung in Madrid an. Diese werde sich vor internationalen Gerichten wegen der Gewalt verantworten müssen. Umgekehrt gingen bei mehreren katalanischen Gerichten nach Angaben des Obersten Gerichtshofs der Region Beschwerden gegen die Regionalpolizei Mossos d’Esquadra ein. Ihr werde vorgeworfen, das gerichtlich verhängte Verbot des Referendums nicht durchgesetzt und - anders als die spanische Bundespolizei - die Öffnung von Wahllokalen nicht verhindert zu haben.

Polizei geht hart gegen abstimmungswillige Katalanen vor

Bei Zusammenstößen zwischen der teilweise hart vorgehenden Polizei und Katalanen während des Unabhängigkeitsreferendums sind am Sonntag Hunderte verletzt worden.

„Eine Schande“

Sogar entschiedene Gegner des Referendums und der Unabhängigkeit schüttelten angesichts des brutalen Vorgehens entsetzt den Kopf. Einer der angesehensten TV-Journalisten Spaniens, Jordi Evole, der die illegale Abstimmung bisher scharf kritisiert hatte, postete auf Twitter: „Diejenigen, die sich diesen Plan zur Verhinderung des Referendums ausgedacht haben, wissen womöglich nicht, dass sie vielleicht den endgültigen Weggang Kataloniens eingeleitet haben.“

Polizeieinsatz in Barcelona

APA/AP/Manu Fernandez

Polizeieinsatz in Barcelona

„Fatales politisches Versagen“

Auch internationale Kommentatoren gingen mit der spanischen Regierung hart ins Gericht: Madrid habe den Konflikt weiter angeheizt. Von „verantwortungslosen Politikern“ schrieb etwa die deutsche „Welt“. Madrid sorge dafür, „dass die Lage heute so ausweglos“ sei, schreibt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Rajoy stehe, auch wenn er „das Recht auf seiner Seite“ habe, „als ein verstockter Machtpolitiker“ da, heißt es in der „Süddeutsche Zeitung“: „Dieser 1. Oktober markiert ein fatales politisches Versagen Madrids.“

ORF-Korrespondent Manola zum Unabhängigkeitsreferendum

Ministerpräsident Rajoy habe der spanischen Bevölkerung versprochen, die Abstimmung Kataloniens zu verhindern. Dieses Verspechen konnte er nicht einhalten.

Besorgnis in Europa

Die Sorge um die Gewalt in einem der wichtigsten Länder der EU wurde auch international kommentiert. Seitens der deutschen Bundesregierung hieß es, Kanzlerin Angela Merkel habe am Samstag mit Rajoy telefoniert. Zu weiteren Gesprächsinhalten wurden keine Angaben gemacht. „Die Eskalation in Spanien ist besorgniserregend“, schrieb indes der Chef der deutschen Sozialdemokraten (SPD) und langjährige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz auf Twitter.

Der belgische Regierungschef Charles Michel twitterte: „Gewalt kann niemals die Antwort sein.“ „Ich will mich nicht in innenpolitische Angelegenheiten in Spanien einmischen, aber ich verurteile scharf, was heute in Katalonien passiert ist“, schrieb der Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament, Guy Verhofstadt, auf Facebook.

Mahnende Worte aus Österreich

In Österreich meldeten sich am Sonntag Grüne und FPÖ zu Wort. Die Grüne Spitzenkandidatin bei der Nationalratswahl, Ulrike Lunacek, ließ wissen: „So wie alle Demokraten in Europa bin ich von der gewalttätigen Zuspitzung der Situation in Katalonien auf das Tiefste schockiert.“ Sie verurteile den Einsatz von Gummigeschoßen und Schlagstöcken seitens der spanischen Einsatzkräfte auf das Schärfste und rufe zu Deeskalation auf.

Harald Vilimsky, freiheitlicher Delegationsleiter im Europaparlament und FPÖ-Generalsekretär, erklärte, angesichts der Gewalteskalation seien „jetzt die EU-Spitzen gefordert“, die Regierung in Madrid zur Ordnung und Mäßigung zu rufen. Es sei ungeheuerlich, wie hier ohne Augenmaß gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen werde. Er kritisierte auch das Schweigen der österreichischen Regierung.

Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) hatte bereits am Samstag in der Ö1-Interviewreihe „Im Journal zu Gast“ erklärt, er beobachte die Entwicklungen mit „Bauchweh und Sorge“. Die Situation in Katalonien sei „verfahren“. Er halte „wenig von der Teilung von Staaten in der Europäischen Union“, stellte Kurz klar. Aber: „Wir mischen uns da nicht übermäßig ein.“

Auch Internetzugänge gesperrt

Seit Wochen hatte Rajoy immer wieder versucht, die Befragung zu verhindern. Bei Dutzenden von Razzien wurden mindestens zwölf Millionen Wahlzettel sowie Millionen von Wahlplakaten und Broschüren beschlagnahmt. Viele Websites wurden gesperrt. Laut der Zeitung „El Pais“ gab es ab 8.30 Uhr in vielen Wahllokalen keinen Netzwerkzugang mehr. Damit gab es keinen Zugriff auf das Auszählungssystem und keine Möglichkeit, doppelte Stimmabgaben zu verhindern. Als Reaktion wurden Ausweise kontrolliert und die Identitäten auf Papier festgehalten.

Trotz des Polizeieinsatzes wurde vielerorts in Katalonien abgestimmt. Die Regionalregierung teilte mit, 96 Prozent der 3.215 Wahllokale hätten am Sonntag normal funktioniert.

Mehrheit erwartet

Die Frage auf den Stimmzetteln lautete: „Wollen Sie, dass Katalonien zu einem unabhängigen Staat in Form einer Republik wird?“ Da die Gegner einer Abspaltung überwiegend nicht zur Wahl gingen, wurde eine klare Mehrheit für die Unabhängigkeit erwartet. Fraglich war aber, ob die Polizei eine Auszählung überhaupt zulassen würde und wann mit Ergebnissen zu rechnen wäre. Zahlreiche Urnen wurden beschlagnahmt. Je höher die Beteiligung, desto mehr Gewicht dürfte das Referendum haben.

Wahllokal in Barcelona

APA/AFP/Jose Jordan

Viele Wähler fanden dennoch den Weg zur Abstimmung

Unter Berücksichtigung der Störungsaktionen aus Madrid würde die Abgabe von einer Million Stimmen „einen überragenden Erfolg“ darstellen, sagte Jordi Sanchez, der Präsident der separatistischen Bürgerinitiative ANC, am Samstag. Bei einem Sieg des Ja-Lagers wollte Barcelona schon in den Tagen nach der Abstimmung die Unabhängigkeit von Spanien ausrufen.

Protest des FC Barcelona

Aus Protest gegen die Gewalt beschloss der Fußball-Topclub FC Barcelona, das Spiel gegen UD Las Palmas am Sonntag unter Ausschluss der Öffentlichkeit auszutragen. Der Antrag des Vereins, das Spiel abzusagen, wurde spanischen Medienberichten zufolge vom Verband abgelehnt.

Der FC Barcelona wärmte mit den Farben der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung auf. Superstar Lionel Messi und die anderen Spieler des Erstligisten kamen am Nachmittag in gelben T-Shirts mit roten Streifen aus der Kabine - angelehnt an die „Senyera“, die traditionelle Flagge der Separatisten. Vor Spielbeginn wechselten die Spieler dann aber in ihre normalen blau-roten Trikots.

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