Abschied von traditionellen Gesetzen
Irland, einst Sorgenkind der EU in der Wirtschaftskrise, befindet sich in einer Phase des gesellschaftlichen Wandels. Der seit Juni regierende Premierminister Leo Varadkar nutzt geschickt die verbesserte wirtschaftliche Lage des Landes, verfolgt weiter den Kurs seines Vorgängers und setzt auf eine Modernisierung der Gesellschaft.
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Politikanalyst Michael O’Regan von der „Irish Times“ prognostizierte vor Varadkars Amtszeit einen signifikanten Ruck durch die Republik. „Er repräsentiert eine Partei im Umbruch innerhalb eines Irlands im Umbruch“, so O’Regan, und es scheint, als behielte er damit recht. Das Abtreibungsgesetz bezeichnete Varadkar kürzlich als „zu restriktiv“. Was folgte, war ein Dekret über ein Referendum zu Schwangerschaftsabbrüchen.

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Irlands Premierminister Leo Varadkar von Fine Gael setzt auf Modernisierung
Direkte Demokratie durch Referenden
Schaut man auf die irische Gesetzeslage, so deutet aber noch viel mehr darauf hin, dass einige Paragrafen im europäischen Vergleich nicht mehr zeitgemäß sind. So gibt es etwa das umstrittene Blasphemiegesetz, wenn es auch seit Langem zu keinem Urteil mehr kam. Das Gesetz wurde nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Parlament diskutiert, und es wurde ein Referendum zur Verfassungsänderung im Mai dieses Jahres beschlossen. Bis jetzt kam es zwar noch zu keiner Abstimmung, aber ein Nein der Iren und Irinnen zum Blasphemiegesetz gilt als wahrscheinlich.
Ehe für alle per Volksabstimmung
Vor zwei Jahren gab es ein anderes Referendum - und zwar zur Ehe für homosexuelle Paare. 62 Prozent der Wahlberechtigten stimmten dafür und 38 dagegen. So wurde Irland zum weltweit ersten Staat, der die gleichgeschlechtliche Ehe per Volksabstimmung beschloss - und das trotz des konservativen Drucks durch die einflussreiche römisch-katholische Kirche. Das befürchtete Stadt-Land-Gefälle blieb aus, die Bilder Tausender feiernder Menschen auf den Straßen in Dublin gingen um die Welt.

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Irinnen und Iren feiern 2015 den Ausgang des Referendums der Ehe für alle
„Fast wie eine soziale Revolution“
Bemerkenswert war auch die Initiative der jungen irischen Bevölkerung in politischen Aufrufen: Beim Referendum zur gleichgeschlechtlichen Ehe reisten unzählige junge Auslandsiren und -irinnen zurück in ihr Heimatland, um an der Abstimmung teilnehmen zu können. Noch vor zwei Jahrzehnten wäre ein Referendum zur Ehe von Schwulen und Lesben undenkbar gewesen: Erst seit 1993 wird Homosexualität nicht mehr als Straftat geahndet.
„Fast wie eine soziale Revolution“, sagte Varadkar - zu diesem Zeitpunkt noch Gesundheitsminister. Und so kann auch Varadkars Aufstieg zum Ministerpräsidenten durchaus als Folge des gesellschaftlichen Wandels gesehen werden. Denn er ist mit 38 Jahren nicht nur der jüngste Premierminister, den Irland je hatte, sondern auch Halbinder und outete sich bereits vor der Abstimmung zur Ehe für alle in einer Radiosendung als schwul.
Musterland der Euro-Rettung
Varadkar übernahm im Juni 2017 die Volkspartei Fine Gael, die nach wie vor mit dem Erbe der Wirtschaftskrise zu kämpfen hat. Irland wurde von der Weltfinanzkrise und der darauf folgenden Euro-Krise besonders hart getroffen, weil die lange Zeit erfolgreiche Immobilienwirtschaft und die Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen zu Belastungsfaktoren wurden. Trotzdem gilt die Inselnation heute als Musterland für die Euro-Rettung.
Denn unter Varadkars Vorgänger Enda Kenny (Fine Gael) wurde fleißig gespart und reformiert: Steuern wurden erhöht und Sozialleistungen eingeschränkt, das Pensionsantrittsalter auf 68 Jahre erhöht und der Kündigungsschutz gelockert. Zugleich investierte die Regierung aber auch in die Sanierung von Krankenhäusern, Schulen und in den öffentlichen Verkehr. Ausländische Konzerne wie Google und Facebook wurden mit niedrigen Abgaben und Schlupflöchern ins Steuerparadies Irland gelockt.
Bevölkerung bereit für Reformen
Die Arbeitslosigkeit fällt von Jahr zu Jahr, und die Staatsfinanzen erholen sich langsam. Doch viele Bürger klagen, dass sie davon zu wenig haben. 2016 lebte jeder zwölfte Ire in „konstanter Armut“, wie das Magazin „Spiegel“ (Onlineausgabe) kürzlich berichtete. Diesen Menschen stehen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung - so reicht das Geld oft nicht, um die Wohnung ausreichend zu heizen oder sich ausgewogen zu ernähren. Auch die Gesundheitsvorsorge kommt häufig zu kurz. Und dennoch - oder vielleicht sogar deshalb - zeigt sich die irische Bevölkerung bereit für gesellschaftspolitische Reformen.
Jugend als Motor für Modernisierung
Doch zum hochaktuellen Thema Abtreibungsgesetz äußerten sich die Iren und Irinnen bisher noch etwas verhalten, berichtete die „Washington Post“ vor Kurzem. Eine Studie des Instituts Ipsos MRBI zeigt, dass 82 Prozent der Befragten Abtreibungen befürworten, wenn die Gesundheit der Mutter in Gefahr ist oder bei Schwangerschaft durch Vergewaltigung (76 Prozent). Allerdings wird eine klare Linie gezogen, handelt es sich um andere Gründe: 68 Prozent der Befragten äußerten sich etwa gegen Abtreibung aus finanziellen oder familiären Gründen.
Schwangerschaftsabbrüche sind in Irland derzeit nur dann erlaubt, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist. Selbst nach einer Vergewaltigung oder wenn die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist, verbieten die irischen Gesetze eine Abtreibung, ebenso im Fall einer Fehlbildung des Fötus. Bei einem illegalen Schwangerschaftsabbruch drohen 14 Jahre Haft. Das hat zur Folge, dass sich vor allem junge Frauen häufiger dazu gezwungen sehen, für Abtreibungen ins Ausland zu reisen. Es scheint also kaum verwunderlich, dass den Umfragen zufolge vor allem junge Menschen eine liberalere Einstellung zu Schwangerschaftsabbrüchen haben.
Nächstes Ziel: Wählen ab 16
Diesen Schwung an gesellschaftspolitischem Interesse wollen Vertretungen der irischen Jugend aber auch für andere Anliegen nutzen. So setzt sich das National Youth Council of Ireland (NYCI) mit der Initiative „Vote at 16“ („Wählen mit 16“) für das Wahlrecht ab 16 Jahren ein. Unterstützt wird dieses Vorhaben von der Partei Sinn Fein. Die unter Katholiken beliebte Partei sieht großes Potenzial in den rund 126.000 16- bis 17-jährigen Iren und Irinnen.
Nächstes Ziel der jungen Modernisierungsbefürworter ist, das Jugendwahlrecht für Lokalwahlen sowie für die EU-Wahl 2019 durchzusetzen - und die Chancen dafür stehen laut Experten und Expertinnen äußerst gut. Auch die EU unterstützt das Wählen ab 16 Jahren offiziell und ermutigt ihre Mitgliedsstaaten zu einem dementsprechenden Beschluss. Nicht zuletzt sind die Bewegungen in Richtung einer modernen irischen Gesellschaft - trotz Widerspruchs in der katholischen Kirche und der Folgen der Wirtschaftskrise - also auch ein Bekenntnis zur Europäischen Union.
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