Mit „Wir töten Stella“ hat Regisseur Julian Pölsler zum zweiten Mal einen Stoff von Marlen Haushofer verfilmt. Der Kinostart ist eine Gelegenheit, die große Schriftstellerin wiederzuentdecken. Denn Haushofers Literatur beleuchtet einen Kosmos, den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen gern als hausfraulich abtaten – und der tatsächlich von großer Radikalität ist.
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„Ich weiß, es war nicht das Glück, es war etwas ganz anderes, ein Glücksersatz für Leute, die aus irgendeinem Grund auf das richtige Glück verzichtet haben.“ Sie findet ruhige Stunden mit ihrem halbwüchsigen Sohn beim gemeinsamen Übersetzen der Ilias, doch in Wahrheit weiß sie genau, dass es „viel zu spät“ ist, noch einmal von vorne zu beginnen: Anna, die Ich-Erzählerin von Haushofers „Wir töten Stella“, ist eine selbstmitleidslose Beobachterin einer Situation, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.
Die Katastrophe zulassen
Die Novelle erschien 1958, eine Frau erzählt darin, dass die ihr anvertraute 19-jährige Tochter einer Freundin bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Möglicherweise war es Suizid, weil zuvor der Ehemann eine Affäre mit dem Mädchen begonnen und brutal beendet hatte. Die Erzählerin sieht entsetzt, doch tatenlos zu, hat die Katastrophe zugelassen und damit Schuld auf sich geladen. Angesichts der klaren Haltung, die Haushofer zur NS-Vergangenheit einnahm, lässt sich dies als Bild für politisches Mitläufertum lesen.
Beim Erscheinen des Bandes blieb die „Stella“ vorerst ohne große Resonanz. Haushofers Freundin Jeannie Elber schrieb ihr, „die Männer kommen durchweg gar so schlecht weg“, worauf Haushofer antwortete: „Aber Du lebst nicht in bürgerlichen Kreisen. (…) Übrigens bin ich in den letzten Jahren nachsichtiger geworden.“
„... und schau aufs Gewürzkasterl“
Die mangelnde zeitgenössische Aufmerksamkeit für Haushofers Arbeit ist auch ihrem als wenig ernsthaft empfundenen Lebensentwurf zuzuschreiben: Anders als etwa ihre Kolleginnen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann hatte sie sich nie voll für ein Künstlerinnenleben entschieden. Sie schrieb ihre Romane und Erzählungen in wenigen, dem Hausfrauendasein abgetrotzten Stunden. „Da setz ich mich in die Küche und schau aufs Gewürzkasterl“, beschrieb sie ihre Arbeitssituation. Dass ihr so wenig Zeit zum Schreiben blieb, sei ein „schmerzlicher Punkt“.
Gerade diese zweite Identität als Hausfrau und Mutter und die Radikalität, mit der diese Erfahrungswelt in ihre Arbeit einfloss, verlieh Haushofers Romanen und Erzählungen besondere Relevanz. Heute gelte „Wir töten Stella“ als ein Meisterwerk, wie Literaturkritikerin Daniela Strigl in ihrer glänzenden Haushofer-Biografie „Wahrscheinlich bin ich verrückt ...“ anmerkt.
Rückzug vorm Familienleben
Erst fünf Jahre später, 1963, veröffentlichte Haushofer ihr nächstes Buch und ihren größten Erfolg: In „Die Wand“ fährt die namenlose Erzählerin mit einem befreundeten Ehepaar in ein Jagdhaus im Wald. Die beiden Gastgeber besuchen abends das nahe Dorf, doch kehren nicht zurück. Und am nächsten Tag stellt die Erzählerin fest, das sie von einer unsichtbaren Wand von der Außenwelt abgeschnitten ist. Ob draußen jemand überlebt hat, ist nicht zu sagen. Sie muss lernen, sich alleine durchzuschlagen.
„Die Wand“ kann als Robinsonade gelesen werden, als postapokalyptische Science-Fiction, als Psychogramm einer Depression oder auch als radikale Wunschvorstellung, sich aus einem als eng und verlogen empfundenen bürgerlichen Familienleben zurückzuziehen. Pölsler hat den Roman 2012 verfilmt, mit Martina Gedeck in der Hauptrolle, und ließ auch in seinem Film vielerlei Lesarten zu.
Flucht hinter die Wand
Mit seiner „Wir töten Stella“-Adaption, die er als Vorgeschichte zur „Wand“ inszeniert hat, schrieb der Regisseur jedoch rückwirkend seine Interpretation fest: Im Film träumt Anna davon, einsam durch die Berge zu wandern, sie träumt von der Wand als einem Schutz. „Ich hab mich für diese Interpretation entschieden, weil ich die Novelle als Prequel zur Wand sehe, und weil ich mich damit beschäftige, warum die Haushofer immer diese Wände in ihren Romanen hat“, so Pölsler gegenüber ORF.at. „Auch in der Stella spricht sie das ja aus.“
Thimfilm
Die deutsche Schauspielerin Martina Gedeck spielt die Rolle der Anna in „Wir töten Stella“
Noch einen dritten Roman hat Pölsler im Sinn, wenn er über die Wände bei Haushofer spricht: In „Die Mansarde“, erst 1969 erschienen, berichtete wiederum eine Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Sie bekommt anonyme Briefe, in denen sich Aufzeichnungen aus einer früheren Phase ihres Lebens finden. Damals war sie durch Sirenengeheul ertaubt und wurde zur Genesung in ein Jagdhaus am Land geschickt.
Hier kann die Taubheit als Rückzug aus einer lieblosen Ehe gedeutet werden, wiederum wie eine unsichtbare Wand. Genau darauf finden sich auch in Pölslers „Stella“ Hinweise, etwa große Kuverts, die die Protagonistin Anna bekommt. „Ich hab mir gedacht, ich leg da eine Spur zur ‚Mansarde’“, so Pölsler. „Das erklärt sich im Film nicht. Da muss man halt noch ein bisserl warten.“ Oder sich Haushofers Werk direkt zuwenden.