Einfach nur allein sein
Der Journalist Michael Finkel zeichnet in seinem Buch „Der Ruf der Stille“ die Geschichte eines modernen Eremiten nach. Im Alter von 20 Jahren zog Christopher Thomas Knight in die Wälder seines Heimatbundesstaates Maine in den USA. Mehr als ein Vierteljahrhundert trotzte er Moskitos und Eiseskälte und beging als „Hungry Man“ über 1.000 Einbrüche, ehe ihn die Polizei erwischte.
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Knight war zum Zelten ausgerüstet, als er 1986 in den Wald ging, auf eine Landkarte und einen Kompass verzichtete er. Sein Auto ließ er auf einem unbefestigten Waldweg stehen, den Schlüssel legte er in die Mittelkonsole. Ein einziges Mal, ganz zu Beginn, übernachtete er in einer leerstehenden Hütte. Aus Angst, erwischt zu werden, tat er kein Auge zu. Es sollte für 27 Jahre seine letzte Nacht unter einem festen Dach sein.
Nach mehreren missglückten Versuchen fand er einen geeigneten Lagerplatz auf einer von Findlingen umfassten Lichtung. Der Platz war halbwegs eben, kaum einsehbar und der Wald ringsherum so dicht, dass sich niemand zufällig dorthin verirrte. Knights Elternhaus war nur 50 Kilometer entfernt, aber es hätte genauso gut am anderen Ende der Welt liegen können. Er hatte kein Bedürfnis nach Kontakt - egal zu wem. Er wollte einfach nur allein sein.
In der Natur von der Zivilisation leben
Im ersten Sommer stahl Knight Gemüse aus Gärten, wenn der Hunger zu groß wurde. Er war in der Gegend aufgewachsen, er wusste, wie man jagt und fischt, hatte sogar schon einmal einen Elch geschossen. Doch er hatte in den Wald weder ein Gewehr noch eine Angel mitgenommen. Die Winter in Maine sind lang und rau, die Temperaturen können auf bis zu minus 30 Grad Celsius fallen.

Wilhelm Goldmann Verlag
Buchhinweis
Michael Finkel: Der Ruf der Stille. Goldmann Verlag, 256 Seiten, 18,50 Euro.
Das Problem der Versorgung löste er - trotz Gewissensbissen - mit Diebstählen. Er beging pro Jahr ungefähr 40 Einbrüche in unbewohnte Hütten und Feriencamps in der Nähe. Er nahm vor allem Lebensmittel, aber auch, was er sonst brauchen konnte: Batterien, Propangasbehälter, Kleidung, Matratzen, Planen, Zelte, Schlafsäcke, Radios und Unmengen an Büchern und Zeitschriften.
Der Stoff, aus dem Legenden sind
Finkel beschreibt den Eremiten in „Der Ruf der Stille“ als einen Mann, der ein Faible für Literatur hat. Als sein Lieblingsbuch nannte Knight „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ von Fjodor Dostojewski, er mag William Shakespeare, besonders „Julius Caesar“, zu Ernest Hemingway habe er hingegen nur laue Gefühle und „Ulysses“ von James Joyce sei eines der wenigen Bücher, das er nicht zu Ende gelesen habe. Wenn der Lesestoff knapp wurde, nahm er bei seinen Einbruchstouren auch Thriller und Liebesromane mit. Die unzähligen Zeitschriften, die er über die Jahre gestohlen und gelesen hat, schnürte er zu Packen und befestigte mit ihnen den Boden seines Lagers.

Maine State Police
Knights Lager im Wald, in dem er 27 Jahre seines Lebens verbrachte
27 Jahre und über 1.000 Einbrüche lang war Knight nicht zu fassen. Er ging so behutsam, geduldig und geschickt vor, dass die Leute oft gar nicht gleich merkten, dass bei ihnen eingebrochen worden war. In der Gegend rund um sein Lager wurde er bald zum Mythos. Die Leute nannten ihn den „Eremiten vom North Pond“ oder „Hungry Man“, manche fürchteten sich vor ihm, andere glaubten nicht an seine Existenz, sie verdächtigten stattdessen ihre Nachbarn, die Bootsbatterie und den Gasbehälter aus dem Grill geklaut zu haben.
Ein Pilz als Haustier
Und dann wurde der Mythos 2013 doch von der Polizei gefasst. Nach seiner Festnahme erregte Knights Fall in den USA großes Aufsehen, viele Medien und Journalisten wollten mit ihm sprechen. Er weigerte sich standhaft, bis Finkel ihm einen Brief schickte und wider Erwarten Antwort bekam. Knight sagte später, dass ihn Finkels Erwähnung der Sommersonnenwende mit gleichzeitigem Supermond - ein Vollmond, bei dem der Mond besonders nahe an der Erde ist und darum größer erscheint – überzeugt habe.
Nach einigen Briefen besuchte Finkel Knight im Gefängnis. Insgesamt neun Treffen fanden dort statt. Der Autor erzählt parallel von diesen Gesprächen, von seinen Recherchen und von Knights Leben im Wald. Die verschiedenen Ebenen ergeben ein facettenreiches Bild eines tieftraurigen Menschen, der für sein Alleinsein auch große Leiden auf sich nahm und in den Wintern mehr als einmal kurz vor dem Kältetod stand. Die einzige Gesellschaft, die er akzeptieren konnte, war jene des Baumpilzes in seinem Lager. Er hatte ihm so lange beim Wachsen zugesehen, bis er ein ähnliches Verhältnis zu ihm hatte wie andere zu einem Haustier.
Filmreifes Autorenleben
Finkel begann seine Karriere beim „Skiing“-Magazin, machte schnell Karriere und war schließlich bei der „New York Times“ angestellt, wo er 2002 für einen Skandal sorgte. In einer Reportage über Kindersklaven in Westafrika hatte er die Aussagen und Geschichten mehrerer Burschen zu einem einzigen fiktionalen Charakter kombiniert. Eine Hilfsorganisation deckte den Schwindel auf, Finkel wurde gefeuert und auch von einigen Magazinen gesperrt, für die er nebenbei geschrieben hatte.

Maine State Police
Knight kurz nach seiner Festnahme im Jahr 2013
Gleichzeitig mit seinem Rausschmiss erfuhr Finkel, dass ein vom FBI gesuchter mehrfacher Mörder auf der Flucht zeitweise seine Identität angenommen hatte und sich den Menschen als Michael Finkel von der „New York Times“ vorgestellt hatte. Der echte Finkel kontaktierte den mittlerweile geschnappten falschen und schrieb ein Buch über die Geschichte. „True Story“ war ein Erfolg und wurde mit Jonah Hill und James Franco in den Hauptrollen verfilmt.
Fakten über das Eremitentum
Für „Der Ruf der Stille“ hat Finkel mit Psychologen gesprochen, war Stammgast in einem Webforum für Eremiten, hat Nachbarn der Knights und Betroffene der Einbrüche besucht und viele medizinische und kulturgeschichtliche Fakten rund um die Themen Isolation und Einsiedlertum zusammengetragen. So erklärt er zum Beispiel, wie sich das Verhältnis von Oxytocin und Vasopressin im Hormonspiegel eines Menschen auf dessen Bedarf an sozialer Interaktion auswirkt. In erster Linie ist das Buch jedoch ein einfühlsames Porträt eines Menschen, der in keine Schublade und keine Gesellschaft passt. Mit viel Verständnis und Sympathie verschafft Finkel den Leserinnen und Lesern Zugang zur Gedankenwelt dieser komplexen Persönlichkeit.
Links:
Michael Winroither, für ORF.at