Themenüberblick

Wenn Jagger zur Wahlurne ruft

95.000 Besucher haben am Samstagabend in Spielberg mit den Rolling Stones ekstatisch dem Rock ’n’ Roll gehuldigt. Die Spielfreude der älteren Herren war bemerkenswert - ebenso wie die reibungslose Organisation des Großevents.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Mit nur einer läppischen Viertelstunde Verspätung eroberte Mick Jagger (74) um 20.45 Uhr die Bühne - zu den ersten Klängen von „Sympathy for the Devil“, begleitet von einem Begeisterungssturm des Publikums. Dann zwei, drei Schreckminuten: Was ist los mit Keith Richards (73)? Er grinste zufrieden und spielte - falsch. Selbstbewusst stimmte er immer wieder denselben Akkord an, der, für jeden Laien hörbar, so dissonant war, dass er auch nicht als seltsame neue Liveversion argumentiert werden konnte.

Ronnie Wood, Mick Jagger, Charlie Watts und Keith Richards (Rolling Stones)

APA/Herbert Pfarrhofer

Die Rolling Stones haben sichtlich Spaß an ihrem Konzert

Aber Richards kriegte sich wieder ein, bei „It’s Only Rock ’n’ Roll (But I Like It)“ war er bereits ganz auf der Höhe, entfaltete seine Magie mit diesem seltsamen Geklimper, das jene Energie freisetzt, wegen der die Stones zu den unumstrittenen Königen des Rock-Universums wurden. Nach einer bluesigen Variante von „Tumbling Dice“ begrüßte Jagger das Publikum mit einem herzhaften: „Hallo Oisterrach! Griaß Eich, Spielberg!“

Glitzerlook war angesagt

Jagger trug zu Beginn ein Pailettensakko im silbernen Glitzerlook, darunter ein samten schwarzes Hemd, das er später neckisch aufgeknöpfte. Im Gegensatz zu früher legte er damit jedoch nur eine darunter liegende Schicht frei statt des nackten Oberkörpers. Macht nichts, das Publikum kreischte trotzdem - wie das eben so ist, wenn man verliebt ist. Keith Richards trat mit Lidstrich, Stirnband, langem schwarzem Mantel und mit Glitzerbändern auf, die ihm vom Gürtel hingen.

Mick Jagger (Rolling Stones)

APA/Herbert Pfarrhofer

Mick Jagger im Glitzersakko

Romantisches Detail am Rande: Ronnie Wood (69) trug am Gitarrengurt groß und dank Videowall für alle sichtbar den Namen seiner 39-jährigen Freundin Sally. Zwei Nummern erlaubten sich die Stones von ihrem letzten Album, auf dem sie alte Blues-Nummern coverten: „Ride ’Em Down“ und „Just Your Fool“. Jagger freute sich und sagte auf Deutsch: „Das ist unser 15. Konzert in Österreich!“ Und die Stones-Hitparade lief wieder an mit einer coolen Version von „Under my Thumb“. Jetzt wurde geschmust im Publikum.

Mick Jaggers Helene-Fischer-Abfuhr

In Sachen Interaktion mit dem Publikum können Nachwuchsbands einiges lernen von Jagger. Er lief von einem Ende der riesigen Bühne zum anderen (man braucht sich also auch keine gesundheitlichen Sorgen um ihn zu machen), winkte, lachte und lieferte Schmähs auf Deutsch: „Im Oktober müsst ihr wählen. Hier könnt ihr jetzt schon wählen.“ Mehrere Songtitel werden auf der Videowall eingeblendet. Jagger: „Helene Fischer könnt ihr nicht wählen.“ Das Publikum lacht mit – auch, wenn mit Sicherheit viele hier Helene-Fischer-Konzerterfahrung haben. Auf Humor folgt Gefühl: „She’s a Rainbow“.

Ronnie Wood und Keith Richards (Rolling Stones)

APA/Herbert Pfarrhofer

Ron Wood und Keith Richards sind trotz ihres fortgeschrittenen Alters nicht leiser geworden

Alles kriegen, was man will

„You Can’t Always Get What You Want“, aber das Publikum bekam an diesem Abend alles. Es ist schön, Menschen dabei zuzusehen, wie sie ihren Job gut und gerne machen. Der 76-jährige Charlie Watts strahlte verzückt; Wood, die Schultern vor, die Augen in Ekstase weit aufgerissen; Keith Richards ging breitbeinig in die Knie, lächelte dabei diabolisch – und Jagger lieferte die Jagger-Show wie eh und je: in cooler Perfektion.

„Paint it Black“ war einer der Höhepunkte des Abends, hypnotisch und psychedelisch in einer Version, die sich Zeit nimmt. Das Publikum versank im Schlamm, es war kein Gras mehr zu sehen, dafür allerorten zu riechen. Die Videowall wurde Schwarz-Weiß, die Auflösung gering, die Kontraste hoch - jetzt sah man den Stones auch hier das Alter nicht mehr an.

„Wo sind meine Gummistiefel?“

Bei „Miss You“ dann das Kontrastprogramm: Grelle Neonfarben zu den funkigen Discoklängen – mit einem beachtlichen Solo vom ehemaligen Miles-Davis-Bassisten Darryl Jones. Nichts wurde dem Zufall überlassen - von der Videowall über das Zusammenspiel der Stones als Gruppe bis hin zum Kontakt mit dem Publikum, der keine Sekunde abriss. Jagger wieder auf Deutsch: „Wo sind meine Gummistiefel?“ Und: „Ist hier irgendjemand aus Knittelfeld?“

Kostümwechsel: Sowohl Jagger und Richards in roten Lederjacken, allerdings niemals gleichzeitig. Ein Zeichen? Viel tat sich nicht zwischen den beiden, zumindest auf der Bühne. Vielleicht hat Jagger es Richards noch immer nicht verziehen, dass der vor einigen Jahren in seiner Autobiografie behauptet hatte, Jagger sei schlecht bestückt.

Rolling Stones begeistern in Spielberg

Eigentlich sind sie längst alle im Pensionsalter, und doch haben sie für das Konzertspektakel des Jahres gesorgt: Die Rolling Stones in Spielberg.

Hitparade samt Feuerwerk

Richards durfte trotzdem zwei Nummern singen, „Happy“ und „Slipping Away“. Bei den Deutschland-Gigs soll er „gemurmelt“ haben, in Spielberg hingegen traf er die Töne laut und in deutlichen Worten. Mit einer 20-minütigen Version von „Midnight Rambler“ übernahm Jagger wieder die Bühne. Die Band verlor sich immer wieder in hypnotischen Soloparts, vor allem Richards traktierte und liebkoste seine abgeschlagene Gitarre; das Publikum wusste es zu schätzen.

Dann einer der großen Hits der Stones nach dem anderen: „Street Fighting Man“, „Start Me Up“, „Brown Sugar“, „Honky Tonk Woman“ und „I Can’t Get No“ wurden routiniert abgeliefert, es folgten nach einem „Dankeschön Österreich“ als Zugaben „Gimme Shelter“ und mit „Jumping Jack Flash“ das letzte Aufbäumen der Ekstase vor dem Abschlussfeuerwerk.

Drei verschiedene Sorten Jamaika-Rum

Aber das Konzert ist ja nur der kleinste Teil so eines Großevents. Wer von Wien aus mit dem Shuttlebus anreiste, wie vom Veranstalter empfohlen, der brach von zu Hause kurz vor 11.00 auf und kam um 5.00 Uhr Früh am nächsten Tag zurück: Das sind 18 Stunden, also knapp 16 Stunden ohne Stones-Konzert. Da muss man sich akklimatisieren und mit dem Strom schwimmen, dagegen sein oder sich über irgendetwas aufregen oder auch nur wundern bringt nichts.

Es war ein bunter Haufen Rock-’n’-Roll-Fans, die die Pilgerreise gemeinsam antraten – und es waren nicht unbedingt Hipster. Viele kamen aus dem benachbarten Ausland. Altersschnitt: gute 45, eher 50. Schon im Shuttle-Bus bei der Hinfahrt verbrüderte man sich und plauderte: „Bei der Andrea Berg hot des bessa funktioniert.“

Oder, nach einem Schluck aus einer Mineralwasserflasche mit trüber Flüssigkeit drin: „Des san drei vaschiedene Sortn Tschameika-Rum.“ Kurze Pause. „I hob eh in der Fruah mein Magenschutz gnumman.“ Bevor Pseudohipster und nebenberufliche Zyniker jetzt die Nase rümpfen: Rock ’n’ Roll war noch nie ein Elitenprogramm, ist es nicht und wird es nie werden.

John Lee Hooker junior und jede Menge Schlamm

Vom Busparkplatz, wo Hunderte Busse Tetris spielten, pilgerten die Fans gesittet zur Schlange, die sich rund zwei Kilometer lang zum Eingang zog. Nach eineinhalb Stunden war man drin und hatte gleich Fehmarn-Feeling – auf der Ostseeinsel fand 1970 das deutsche Woodstock statt, die Menschen wateten dort im tiefen Schlamm. Gute fünf Zentimeter hoch versank man auch in Spielberg.

Ein Galan alter Schule warf seine Freundin wie einen Mehlsack über die Schulter und trug sie durch den Morast nach vorne Richtung Bühne, wo John Lee Hooker junior als Nachmittagseinpeitscher ein erstklassiges Blues-Set in bewährter Tradition ablieferte: Klassiker, Songs seines Vaters und eigenes Material. Mit der Hügellandschaft im Hintergrund und der untergehenden Sonne, die es doch noch durch die Wolken geschafft hatte, dazu Menschenmassen, die geduldig durch Schlamm schlurften, ein Erlebnis für sich. „Hallelujah“ musste das Publikum unentwegt nachbeten. Vielleicht blieb es deshalb den Rest des Abends trocken.

Blechummantelte Alkoholblasen

Als zweite Vorband traten die Isländer Kaleo auf, die 2014 mit „All the Pretty Girls“ einen viralen Spotify-Hit gelandet hatten (28 Millionen Downloads) und deren Song „Way Down We Go“ man aus der Schlipsträgerserie „Suits“ kennen könnte. Der Sänger sah mit seinem Steirerjanker, dem Sidecut, der Schmalzlocke und dem verzwickten Gesichtsausdruck zwar aus wie ein Identitärer, der schon zu lange in der Schlange vor dem Dixiklos steht, aber - die Musik überzeugte: das ideale Bindeglied zwischen dem puristischen Blues Hookers und der lauten, schrillen Variante der Stones. Das Publikum war nicht nur höflich - es war begeistert, wie es bei Vorgruppen selten vorkommt.

Dann die Stones, zwei Stunden Bluesrock pur. Und schließlich die Pilgerreise zurück zum Parkplatz und zum Bus, der dann noch eine halbe Stunde als blechummantelte Alkoholblase im Stau herumzuckelte, bevor es auf der Autobahn zurückging. „Play With Fire“ - lieber nicht, das hätte eine Explosion gegeben, die die nicht nur vor Glück trunkene Fans jäh aus ihren Träumen gerissen hätte, in denen Mick Jagger auch als 105-Jähriger noch brüllt: „I can’t get no satisfaction!“

Link: