Robert Menasse hat mit „Die Hauptstadt“ den lange von ihm erwarteten Roman über die Europäische Union vorgelegt. Der Suhrkamp Verlag bewirbt das Buch als den „großen europäischen Roman“. Doch Menasse schlägt sich unter seinem Wert.
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Rund um die Kirche Sainte-Catherine und den nach ihr benannten Platz im Zentrum von Brüssel spinnt Menasse die Fäden seines Romans. Alle seine Hauptfiguren - inklusive des frei herumlaufenden Schweines - lässt er ganz zu Beginn hier auftreten. Die Erzählung springt zwanglos von einer Figur zur anderen, und so entwickelt sich erst nach und nach ein vollständiges Bild der Zusammenhänge.
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Zu Menasses Reigen gehören mehrere Kommissionsbeamte aus verschiedenen Bereichen und Ebenen, ein Polizist der Brüsseler Mordkommission, ein alter Wirtschaftsprofessor, ein polnischer Killer im Dienste der katholischen Kirche, Österreichs größter Schweinebauer und der Holocaust-Überlebende und pensionierte Lehrer David de Vriend.
Reden über die letzten Zeugen
De Vriend und Adam Goldfarb, der nur kurz im Zusammenhang mit seinem Ableben erwähnt wird, dienen Menasse als Beispiele für die letzten Holocaust-Überlebenden, die letzten Mahner, denen ihre Biografie eine nicht zu untergrabende Autorität gibt. Bald würden diese aber ausgestorben sein und niemand mehr würde übrig sein, der den Ausruf „Nie wieder!“ allein durch seine Anwesenheit zu mehr als einer Floskel machte.
Dieses Motiv brachte Menasse auch in seinen Reden schon an, zuletzt zum Beispiel in jener, die er im März dieses Jahres unter dem Titel „Kritik der Europäischen Vernunft“ zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im Europäischen Parlament gehalten hat. Wer Menasses glühende Reden über die EU und Europa kennt, wird so manches aus ihnen im Roman wiederfinden.
Preisbehangener Landbote
Das ist aber kein Wunder, Menasse beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema. Spätestens seit seinem 2012 erschienenen Essay „Der Europäische Landbote“ zieht er als ebensolcher durch die Medien, verteidigt die EU gegen populistische „Eurokratie“-Vorwürfe und die kleingeistigen Interessen der Nationalstaaten und fordert eine konkrete Weiterentwicklung der EU hin zu einer Europäischen Republik und damit eben die Überwindung der Nationalstaaten.
Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prix du livre europeen. Im Preise-verliehen-Bekommen hat Menasse bereits Erfahrung: Hugo Ball, Heimito von Doderer, Lion Feuchtwanger, Erich Fried, Max Frisch und Heinrich Mann – um nur einige zu nennen – sind Namensgeber von Preisen, die an ihn vergeben wurden. Er selbst hat mit einer Spende dazu beigetragen, den Jean-Amery-Preis für europäische Essayistik wiederzubeleben und fungiert bei diesem als Juryvorsitzender.
Suhrkamp
Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp, 459 Seiten, 24,70 Euro.
Theoriegestählter Romancier
Einem größeren Publikum wurde Menasse mit seinem dritten Roman „Schubumkehr“ (1995) bekannt. Das Buch lässt sich gemeinsam mit seinen beiden Vorgängern „Sinnliche Gewißheit“ (1988) und „Selige Zeiten, brüchige Welt“ (1991) zur „Trilogie der Entgeisterung“ zusammenfassen. Der Titel bezieht sich auf Hegel, und schon hier ist offenkundig, dass Menasses Romane nicht ohne theoretischen Unterbau auskommen.
Es folgte mit „Die Vertreibung aus der Hölle“ (2001) ein zweigleisiger Roman über einen Rabbiner im 17. Jahrhundert und seine entfernten Verwandten im Österreich des 20. 2007 erschien „Don Juan de la Mancha“, der die sexuelle Revolution und ihre Folgen in den Blick nimmt. Nach einer Pause von zehn Jahren ist „Die Hauptstadt“, Menasses sechster Roman, aber nicht der erwartete große Wurf.
Schweine und Beamte sind auch nur Menschen
Das Schwein spielt eine wichtige Rolle in „Die Hauptstadt“: Der Schweinebauer und Lobbyist Florian Susman vertritt die Interessen der European-Pig-Producers, alle wollen Handelsverträge über Schweineohren mit China abschließen, die sogenannten PIIGS-Staaten treten in Form der entsandten Beamten auf, und das entlaufene (oder ausgesetzte) Schwein in den Straßen wird Thema der Boulevardpresse, die ihm bald schon per Leservoting einen Namen geben will.
Menasse versucht ein europäisches Panorama zu zeigen. Großartig sind seine Beschreibungen der Kommissionsbeamten. Seine Nachzeichnungen der teilweise grundverschiedenen Hintergründe und Karrieren sind ein Gewinn. Von der in Armut geborenen Zypriotin, die sich mit Fleiß, Ehrgeiz, Anpassung und Berechnung hochgearbeitet hat, bis zum „barocken“ Sprössling eines alten italienischen Adelsgeschlechts, der auch mit seiner extravaganten Kleidung aus der asketischen Riege der immer gleichen dunklen Anzüge heraussticht, ist alles dabei.
Verknüpfungsprobleme und blinde Flecken
Was Menasse in seinem Panorama leider ausblendet, sind jene, die mit der EU nicht zufrieden sind. Er wollte einen großen Vorabend-Roman schreiben, berichten von Europa am Vorabend des Untergangs. Denn, so schreibt er in „Der Europäische Landbote“, untergehen werden in absehbarer Zeit entweder die Nationalstaaten oder das Projekt ihrer Überwindung.
Zu diesem Vorabend gehören aber nicht nur jene, die schlafwandlerisch das Problem ausblenden und den Status quo verwalten, sondern auch jene – zugegeben schwer zu fassende – Gruppe an Menschen, die den Untergang der EU herbeisehnt und wohl erst nach Erreichen ihres Ziels merken würde, was sie sich damit eingebrockt hat.
Wenn Menasse längere Zeit bei einem seiner Charaktere bleibt, bietet das Buch große Erzählkunst. Auch die Übergänge sind meist stimmig, Charaktere vielschichtig. Wenn man aber darauf wartet, dass die am Anfang gesponnenen Erzählfäden verknüpft werden, wird man enttäuscht. Immer wieder bleiben lose Enden, auch die Haupterzählstränge ergeben kein Ganzes, sondern fransen aus.