„Aber jeder muss lesen können können"
Franz Lettner vom Institut für Jugendliteratur in Wien im Interview mit ORF.at über die Unterschiede zwischen Fernsehen und Büchern, die Rolle der Schule in Bezug auf Chancengleichheit und darüber, was es braucht, damit Kinder zu Vielleserinnen und Viellesern werden.
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ORF.at: Lesen Kinder heute weniger als vor zehn oder zwanzig Jahren?
Franz Lettner: Was das Leseverhalten anlangt, hat sich bei Kindern insgesamt nicht so viel verändert, wie man denkt – wenngleich die Lesezeit insgesamt abnimmt, wahrscheinlich bei über Vierzehnjährigen deutlicher als bei Kindern.
Wenn man sich die (deutschen, Anm.) KIM-Studien (Kindheit, Internet, Medien) ansieht, lesen Kinder gegenwärtig nicht deutlich weniger gern als etwa 1999. Und natürlich muss man zwischen Sechsjährigen und 13-Jährigen unterscheiden. Zuerst nimmt das Interesse am Lesen stetig zu, ab etwa zwölf Jahren geht es zurück. Auch das ist nichts Neues.
ORF.at: Wie sehr ist das Internet eine Konkurrenz für das Medium Buch?
Lettner: Einerseits stehen natürlich alle Medien in Konkurrenz zueinander – wenn ich das eine nutze, kann ich zumeist das andere in der Zeit nicht nutzen. Und wir haben alle nur begrenzt Zeit zur Verfügung. Ja, Binsenweisheit. Andererseits vermitteln unterschiedliche Medien unterschiedliche Inhalte auf eine je eigene Art und stehen dann eigentlich nicht in unmittelbarer Konkurrenz zueinander.
ORF.at: Was unterscheidet Fernsehen vom Lesen, beispielsweise, ob ich eine Wissensendung anschaue oder ein Sachbuch lese; ob ich eine spannende Geschichte im TV anschaue oder sie in einem Buch lese?
Lettner: Fernsehen erzählt andere Geschichten auf eine völlig andere Art und Weise. Und das ist erst mal natürlich nicht die Feststellung eines qualitativen Unterschieds – die beiden Medien funktionieren halt ganz anders. Fernsehen ist ja wohl immer noch die liebste Freizeitbeschäftigung bei Kindern, das Angebot ist riesig, es gibt tolle Sendungen und schlechte, was im Übrigen bei Büchern nicht anders ist.
Es gibt viele Unterschiede: Fernsehen ist ein lautes Medium, Fernsehen gibt in der Regel viel mehr vor – nicht nur die Geschwindigkeit in der eine „Erzählung“ abläuft, aber das erscheint mir schon sehr wichtig: dass ein Leser und eine Leserin ihr je eigenes der Geschichte, dem Text angemessenes Tempo selbst bestimmen kann, inklusive Pausen oder Zurückblättern etc.
Darüber hinaus verlangt das Medium Buch eine relativ hohe Konzentration – und damit wird ein ganz eigener Kommunikationsraum erzeugt. Niemand liest ein Buch und spielt gleichzeitig auf dem Handy oder quatscht mit Freunden. Lesen ist – wenn es sich nicht um Vorlesen handelt – eine ausschließliche und die Umwelt ausschließende Tätigkeit, zumindest während man sie ausübt.
Beim Fernsehen schaut das anders aus. Das kann man auch als Vorteil des Mediums Fernsehen betrachten: Wenn man gemeinsam fernsieht, kann man sich dabei auch darüber unterhalten. Das Medium Buch kann wohl auch besser mit Freiräumen arbeiten als das Medium Fernsehen. Das hat zur Folge, dass der Anteil der Lesenden an der Konstruktion einer Geschichte in der Regel höher ist als derjenige von Fernsehzuschauern und -zuschauerinnen.
Ich kann, wann immer ich will, in einem Buch lesen. Auch wenn kein Strom da ist oder der Akku leer. Ich kann Eselsohren machen und ins Buch kritzeln, ich kann beim Lesen summen, das Buch in die Ecke schmeißen oder es auch als Leben nehmen.
ORF.at: Wenn Kinder gar keine Lust auf Bücher haben: Was können Eltern und Lehrende sinnvollerweise tun?
Lettner: Selber lesen und zeigen, dass Lesen schön, gut und spannend ist. Gemeinsam in Buchhandlungen oder die Bibliothek gehen. Interesse zeigen an den Büchern, die den Kindern in die Hand gedrückt werden. Natürlich auch versuchen, in der Auswahl der Bücher, die man den Kindern in die Hand drückt, auf deren ganz spezielle Interessenslagen achten. Und dann vor allem Vorlesen – wahrscheinlich immer noch das beste Mittel.
Grundsätzlich ist das Bedürfnis nach Lesen ja nicht angeboren, sondern muss vermittelt, „anerzogen“, werden. Das Vorhandensein von Büchern in einer Familie und das Vorbild von Familienangehörigen, die diese Bücher ganz regelmäßig und immer selbstverständlich nutzen, wird Kinder in der Regel entsprechend prägen und in ihnen ein Lesebedürfnis wecken. Wahrscheinlich.
Aber es gibt neben den erwarteten Leserinnen und Lesern natürlich auch die unerwarteten Nichtleserinnen und Nichtleser. Jedenfalls kann man davon ausgehen, dass das Leseverhalten Erwachsener in ihrer speziellen Ausprägung viel mit Mustern zu tun hat, die in der Kindheit geprägt wurden.
ORF.at: Warum ist es überhaupt wichtig, Kindern Bücher nahezubringen? Reicht es nicht, wenn sie lesen können?
Lettner: In seinem alten, aber immer noch klugen Buch „Wie ein Roman - Die 10 Rechte des Lesers“ setzt Daniel Pennac als erstes Recht „Das Recht nicht zu lesen“ ein. „Lesen“ sagt er, „ist eine Freiheit, keine moralische Verpflichtung. Die Freiheit zu schreiben, bedingt nicht die Pflicht zu lesen.“ Und da hat er naturgemäß ganz recht. Wir reden hier vom literarischen Lesen. Es ist natürlich keine Frage, dass Kinder lesen lernen müssen. Und lesen lernt man halt am besten durch lesen. Je mehr man liest, umso besser liest man - und umso mehr liest man aus den Büchern heraus oder in sie hinein.
Ich kann mich erinnern, dass meine Eltern, die nicht gelesen haben, durchaus wollten, dass ich lese. Aber nicht, um in andere Welten einzutauchen, andere Geschichten als die meine kennenzulernen, andere Möglichkeiten zu (er)leben ..., sondern um Lesen zu lernen. Als ich es – ihrer Meinung nach – ausreichend konnte, war es eher ein unnützer Zeitvertreib. Das ist, wie ich meine, ein schönes Beispiel, wie man es nicht halten soll mit dem Lesen: Literatur quasi nur als eine Fibel zu sehen, die einzig dem Zweck dient, lesen zu lernen.
Es ist auch klar, dass sowohl die Bedeutung als auch Häufigkeit, Intensität und Art des Lesens sich im Lauf eines Menschenlebens immer wieder ändern, weil man halt zuerst muss, dann darf, dann keine Zeit hat, dann für den Job lesen muss, dann wiederum ein Bedürfnis hat, um eine bestimmte Lebenslage besser zu verstehen, eine Krise zu bewältigen, die Welt besser zu verstehen, dann nicht mehr kann, weil die Augen nicht mitmachen.
ORF.at: Wenn einem Kind im Kleinkind- und Vorschulalter wenig Interesse und Freude am Lesen und an Literatur vermittelt wurde – wie kann die Schule das ausgleichen?
Lettner: Vorschulische und schulische Einrichtungen müssen diesbezügliche Defizite ausgleichen. Das ist notwendig. Das hat mit Chancengleichheit zu tun. Für viele Kinder sind Kindergarten und Schule die einzige Möglichkeit zum Lesen, zur Literalität zu finden. Nicht jeder muss lesen, aber jeder muss lesen können können, wenn er das will.
ORF.at: Wie werden Kinder zu Viellesern?
Lettner: Hätte ich ein Rezept, wäre ich ein gefragter Mann. Aber im Grunde kommt vieles zusammen: lesende und vorlesende Eltern, Bücher im Haus, die selbstverständlich genutzt werden. Das möglichst zügige Lernen des Lesens, damit der Vorgang des Lesens nicht so viel Mühe macht und man sich auf das Gelesene konzentrieren kann.
Kindergartenpädagoginnen und auch -pädagogen, die nicht nur oft, sondern auch mit Leidenschaft und Lust vorlesen. Lehrerinnen und auch Lehrer in der Grundschule, die überzeugend gute Lesevorbilder sind. Positive Leseerlebnisse – auch die richtigen Bücher zum richtigen Moment. Also eine Menge Glück.
Das Gespräch führte Romana Beer, für ORF.at