„Das Muttersprachenideal ist ein Problem“
Die Sprachwissenschaftlerin Brigitta Busch im Interview mit ORF.at über den Umgang mit Mehrsprachigkeit in Schulen, Mängel in der Ausbildung von Lehrenden und warum es sich lohnt, besonders in den Volksschulen zu investieren.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
ORF.at: In einer Großstadt wie Wien ist die Sprachenvielfalt ja migrationsbedingt groß. Warum ist Mehrsprachigkeit, die eigentlich auch ein Startvorteil im Leben sein könnte, gerade im Bereich Schule großteils negativ konnotiert?
Brigitta Busch: Das hat sehr viel mit dem Schulsystem selbst zu tun. Die Schule ist trotz EU noch immer sehr stark eine nationalstaatliche Angelegenheit. Im 18. Jahrhundert wurde die Schule als deutsche Schule für die gesamte Monarchie eingeführt. Schon damals kam man aber sehr schnell darauf, dass das nicht der Realität entspricht, weil es unter den Kindern unterschiedliche Erstsprachen gibt. Es gab damals ein Methodenbüchlein, wie mit Kindern mit nicht deutscher Sprache umgegangen werden kann.
Die Fragestellung ist also eigentlich eine ganz alte: Wie geht man mit einer heterogenen SchülerInnenschaft um? Wie stellt man das an, welche Didaktik ist geeignet?
Die Schule ist von dieser Homogenitätsidee getragen: Die Sprache soll gleich sein, der Jahrgang soll gleich sein, der soziale Hintergrund soll gleich sein. Man geht von der These aus, dass Unterrichten dann leichter ist. Das bezweifle ich aber. Gerade das soziale Lernen ist in heterogenen Gruppen, in denen man die Heterogenität nicht als Mangel sieht, leichter. Kinder können von anderen Kindern lernen. Sprachlich nicht homogene Klassen bieten viele Ideen für Lernanlässe.
Probleme an vielen Schulen entstehen zu einem großen Teil dadurch, dass der Umgang mit Mehrsprachigkeit bei der Lehrerausbildung nicht Pflicht ist. Junge Lehrerinnen und Lehrer kommen ohne das nötige Rüstzeug an die Schulen.
Ich habe vor einiger Zeit am Institut für Sprachwissenschaft eine Diplomarbeit betreut, für die Lehrende im zweiten und dritten Berufsjahr interviewt wurden. Die sagten, sie seien in der Ausbildung nur auf homogene Klassen vorbereitet worden und hätten vor dem Berufseinstieg nicht gewusst, was auf sie zukommt. Auch beim Berufseinstieg habe es keine Hilfestellung gegeben, wie man mit heterogenen Klassen umgeht. Das ist ein Riesenproblem.
Solange man nicht wahrnimmt, dass die real existierende Mehrsprachigkeit da ist, und sich überlegt, wie wir damit umgehen, so lange wird das ein Problem bleiben. Man kann das ja nicht wegdiskutieren. Und es ist ja nicht nur in Wien oder in Österreich so, sondern fast überall auf der Welt.
ORF.at: Welche Möglichkeiten gibt es für Schulen und Lehrende, positiv und wertschätzend mit Mehrsprachigkeit umzugehen? Gibt es Beispiele aus anderen Ländern, wo das besonders gut gelingt?
Busch: Da gibt es immer wieder sehr spannende Ansätze. In Schweden gibt es in einzelnen Gemeinden den Ansatz zur Sprachenvielfalt: Wir erlauben und unterstützen es, wenn Schülerinnen und Schüler, die noch nicht Schwedisch können, am Anfang einen Begleiter mitnehmen. Die Kinder haben dann jemand mit, dem sie vertrauen, der ihre Erstsprachen, aber auch Schwedisch spricht. Dieses Buddy-System wird zum Teil von der Gemeinde bezahlt. Viele Begleiterinnen und Begleiter arbeiten aber auch ehrenamtlich. Eine Weile sind Projekte wie dieses teuer, aber es rechnet sich ungemein. Wenn es um Mehrsprachigkeit geht, darf man nicht mit schnellen Rentabilitäten rechnen.
Gute Modelle sind ganz allgemein solche, wo die Schülerinnen und Schüler genug Zeit bekommen. Das Um und Auf ist ein wertschätzender Umgang mit den sprachlichen Ressourcen, die die Kinder mitbringen.
ORF.at: Was kann es in Kindern auslösen, wenn sie immer wieder das Gefühl vermittelt bekommen, dass ihre Familiensprache weniger wert ist als Deutsch?
Busch: Wenn man immer daran gemessen wird, was man nicht ausreichend kann, verliert man das Selbstvertrauen. Das kann zu einem Rückzug, zu einem Verstummen oder auch zu aggressivem Verhalten führen.
Es ist wichtig, Kindern zu vermitteln, dass sich Erfolge vielleicht nicht so schnell einstellen. Wir kennen das doch alle, dass Sprachenlernen mit Höhen und Tiefen verbunden ist. Es ist wichtig, ihnen den Druck zu nehmen, dass sie ständig nur daran gemessen werden, wie gut sie schon Deutsch können. Und es ist sehr wichtig, den Kindern das Bewusstsein zu vermitteln, dass man ihnen neben den Deutschkenntnissen auch sehr viel anderes zutraut.
Je mehr das Deutschlernen mit Druck verbunden ist, desto schwieriger ist es. Gerade beim Deutschlernen winkt für diese Kinder höchstens das Lob, dass sie gut gelernt haben. Sie können aber per Definition nie Muttersprachler werden. Die Sprachideologien, die diesen Bereich dominieren, sind sehr gefährlich.
Deutsch mit Akzent ist ein genauso gutes Deutsch wie das Deutsch ohne Akzent. Denn auch das sogenannte Deutsch ohne Akzent hat einen Akzent. Auch österreichische Kinder kommen mit einem gefärbten Deutsch in die Schule, sei es ein Dialekt oder eine Färbung. Jede Färbung ist okay. Aber das Muttersprachenideal, dieses für viele Kinder unerreichbare Ideal, das ist ein Problem.
ORF.at: Wie können Kinder, die täglich zwischen ihrer Familiensprache und der Unterrichtssprache Deutsch wechseln, beim Erwerb beider Sprachen sowohl von der Schule als auch von ihren Eltern ideal unterstützt werden?
Busch: Man muss ihnen die Möglichkeit geben, ihre Erstsprachen weiter auszubauen, und sie dabei unterstützen. Der muttersprachliche Unterricht ist eine wichtige Sache, um die Sprache zu einer Lese- und Schreibsprache auszubauen. Und sie in einem Kontext zu praktizieren, der über die Familie hinausgeht.
ORF.at: Viele Eltern melden ihre Kinder allerdings nicht zum muttersprachlichen Unterricht an, weil sie wollen, dass ihre Kinder sich ganz auf Deutsch konzentrieren, oder weil sie befürchten, als „integrationsunwillig“ wahrgenommen zu werden.
Busch: Da müssen Lehrende und Schulleitung besser über die Bedeutung des muttersprachlichen Unterrichts aufklären. Die Schulleiterinnen und Schulleiter müssten das dezidiert fördern. Oft fehlt es an Informationen.
ORF.at: Unter anderem wegen der oft geringen Durchmischung in den Volksschulen können viele Kinder ihre Deutschkenntnisse nur langsam verbessern und haben dadurch Nachteile auf dem weiteren Bildungsweg. Was braucht es, um allen Kindern annähernd gleiche Chancen zu ermöglichen?
Busch: Der Förderunterricht müsste besser auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmt werden. Die Instrumente dazu sind da. Durch Sprachstandserhebungen kann man genau schauen, wo die Kinder stehen und was man tun kann, um auf das einzelne Kind einzugehen. Vieles lässt sich auch im Klassenverband machen, also ohne dass das Kind aus dem Unterricht genommen werden muss.
Generell braucht es außerdem eine wesentlich bessere und fundiertere Sprachausbildung für die Lehrenden, unter Berücksichtigung von soziolinguistischen und psycholinguistischen Aspekten. Lehrerinnen und Lehrer sind oft nicht sicher genug, wie sie mit sprachlich heterogenen Klassen umgehen sollen. Sie haben oft nicht genug Informationen, zum Beispiel darüber, wie Spracherwerb in einer mehrsprachigen Umgebung funktioniert.
Auch mehr Austausch zwischen Lehrenden über Fragen zu Didaktik in heterogenen Gruppen ist notwendig. Es wäre wichtig, eine didaktische Werkstätte zu schaffen, wo Lehrende, die in multilingualen Klassen unterrichten, sich austauschen können.
ORF.at: Würden alle Eltern ihre Kinder in der „Schule ums Eck“ anmelden, wäre die Durchmischung größer. Stattdessen entscheiden sich viele für Privat- und Alternativschulen oder sammeln sich in jenen öffentlichen Schulen oder Klassen mit „gutem Ruf“. Was steckt hinter den Ängsten vieler Eltern, und wie kann man diesen entgegentreten?
Busch: Wahrscheinlich fehlt es an wirklich guter Beratung. Eltern werden mit ihren Ängsten oft alleine gelassen. Die Informationen bei der Schuleinschreibung reichen für viele nicht aus.
ORF.at: Anders gefragt: Was soll so schlimm daran sein, wenn mein Kind in eine Klasse geht, in der zwei Drittel noch nicht so gut Deutsch können?
Busch: Wenn die Lehrenden mit der Situation umgehen können: gar nichts. Im Gegenteil, das ist positiv. Wenn Lehrende heillos überfordert sind, ist es aber natürlich ein Nachteil. Es geht also darum, wie man Pädagogen so stützen kann, dass sie das Gefühl haben, sie sind gerüstet, in so einer Klasse zu unterrichten.
ORF.at: Viele Lehrerinnen fühlen sich vielleicht gerüstet, ihr Arbeitsalltag wird aber durch mangelnde Unterstützung erschwert: das Fehlen einer Begleitlehrerin etwa oder zu wenige Plätze im Sprachförderkurs, durch den jene Kinder, die noch gar kein Deutsch sprechen, anfangs unterstützt werden.
Busch: Man muss am Anfang des Bildungsweges, in den Volksschulen, in gute Förderung investieren: kleine Klassen, mehr Lehrkräfte. Das macht sich a la longue bezahlt.
Das Gespräch führte Romana Beer, für ORF.at