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Frechheit siegt

Fünf Jahre war sie weg, nun hat sie ein fulminantes Comeback geschafft. Mit dem Album „Rainbow“ stieg US-Sängerin Kesha auf Platz eins der Billboard-Charts ein. Ihr Produzent wird dabei wohl gemischte Gefühle haben - denn sie rechnet in den Songtexten mit ihm ab.

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So ist das, wenn man Menschen reduziert - wie das eben üblich ist im Stars- und Sternchen-Business. Kaum glaubt man, es mit einem Retortenprodukt zu tun zu haben, folgt die Überraschung auf den Fuß: Das ist ja doch ein Mensch. Als sich Britney Spears eine Glatze schneiden ließ, war das so ein Moment. Oder als Miley Cyrus plötzlich in Interviews erklärte, dass ihr die Vergangenheit als ein dem Kinderstar-Alter gerade entwachsener Nackt-auf-der Abrissbirne-Feuchttraum nicht mehr ganz koscher war.

Ähnlich auch bei Kesha, an der weder Hochkulturkritiker, noch Underground-Experten jemals anstreifen wollen würden. Naserümpfend wird konstatiert: Eurotrash-Gestampfe mit Autotune-Sing-Sang. Kann man machen - oder näher hinschauen. Denn Kesha ist nicht nur eine mehr als passable Songwriterin, die für zahlreiche Stars (unter anderem Britney Spears) Hits geschrieben hat. Sie ist auch in ihrem eigenen Vortrag äußerst wandlungsfähig.

Quer durch den Charts-Gemüsegarten

2010 erschien ihr erstes Album „Animals“, danach folgte 2012 „Warrior“ und nun, nach fünf Jahren Wartezeit, endlich „Rainbow“, das in die Billboard-US-Albumcharts gleich auf Platz eins einstieg und damit heuer nur von Katy Perrys „Witness“ übertroffen wurde, was Album-Veröffentlichungen von Frauen in den USA betrifft. Musikalisch war von 2010 bis heute schon vieles dabei, wenn auch, das sei bei aller Wandlungsfähigkeit erwähnt, nichts wirklich Innovatives.

„Right Round“, gemeinsam mit Flo Rida, war Rap mit R-&-B- und EDM-Einsprengseln; „Tik Tok“ sommertauglicher Partypop;
„Animal“ war tatsächlich billiger Euro-Trash; „Stephen“: Pop mit Arty-Einschlag; „Dinosaur“ wiederum erinnert fast an Die Antwoord in seiner bissigen Ragga-Aufgekratztheit; „Backstabber“ kommt als Electroclash daher, „Blah Blah Blah“ ist frech wie Pink zu besten Zeiten, „Dirty Picture“ ist Electroclash, der sich, wäre der Song ein wenig ambitionierter, wie eine Nummer von Peaches anhören könnte; „Your love is my drug“ ist wiederum ein völlig einfallsloser Charts-Zuschnitt, „Take it of“ ein Uptempo-Autotune-Massaker und schließlich „We R who we R“ eine Selbstermächtigungshymne im drängenden Stampfrhythmus.

Geschichten aus dem eigenen Leben

Doch das neue Album ist anders - Kesha wirkt, als wolle sie ihren Kritikern beweisen, dass sie sehr wohl singen kann und Autotune bei ihr nicht eingesetzt wird, um schiefe Töne geradezurücken. Sie singt wie eine frischere Version von Mariah Carey, allerdings überschreitet das Pathos bei ihr nicht die Schmerzgrenze, weil man den Songs ihre Autenthizität anmerkt. Und aus ihrem eigenen Leben hat Kesha einiges zu erzählen.

1987 geboren, wuchs sie mit einem älteren Bruder und ihrer ungarischstämmigen Mutter ohne Vater auf. Immer wieder war die Familie auf Sozialhilfe angewiesen, bevor es langsam, aber stetig mit der Karriere der Mutter als Songwriterin in Nashville bergauf ging. Eine Kinderbetreuung war zu teuer, also wurde Kesha in die Tonstudios der Country-Stars mitgenommen. Die Helden ihrer Kindheit: Dolly Parton (für die ihre Mutter einen Song schrieb), Johnny Cash und der Gottvater aller Singer-Songwriter, Bob Dylan.

Immer wieder „Motherfucker“

Mit einiger Mühe könnte man konstruieren, dass sich Kesha den Sing-Sang früherer Alben von Dylan abgeschaut hat und dass sie Dolly Partons Entwicklung vom Country-Starlet zur ernsthaften Musikerin, die sich intensiv Gospels und Bluegrass widmete, nachvollzogen hat. Und von Parton hat sie den „frechen“ Habitus, wenn auch zeitgemäß angepasst: „Motherfucker“ ist Keshas Lieblingswort, es wird pro Konzert gut 150-mal bemüht, zwischen, in und nach den Songs. Warum nicht? Auch Mütter haben Recht auf Sex.

Gegen den männlichen Sexismus im Popgeschäft hat Kesha bereits in der Vergangenheit angesungen („Blah Blah Blah“). Aber das neue Album ist ganz ihren eigenen Erfahrungen mit dem Thema gewidmet. Erfahrungen, die auch der Grund dafür sind, dass ihr letztes Album fünf Jahre her ist. Denn Kesha ist vertraglich an ihren Produzenten Dr. Luke gebunden, der ihr „Entdecker“ war - und gleichzeitig ihre Nemesis.

Selbstermächtigungssongs

Zumindest wurde er von ihr geklagt, wegen einer ganzen Reihe von Vorwürfen, die, zusammengefasst besagen: Dr. Luke hat laut Kesha die volle Palette männlichen Arschlochverhaltens an den Tag gelegt. Er habe sie sexuell belästigt, bedrängt und seine Machtstellung auch sonst in jeder erdenklichen Hinsicht ausgenutzt. Dr. Luke reagierte mit einer Verleumdungsklage - bis Kesha 2016 die Klage niederlegte. Eine Verurteilung hat es in keinem der beiden angestrengten Prozesse gegeben.

Dafür handeln gleich drei Songs auf dem neuen Album recht eindeutig von Dr. Luke, zuvorderst „Praying“:

„I am proud of me - yes i am
no more monsters - i can breathe again
I don’t need you, I can make it on my own
I found a strength in me I’ve never known
You put me through hell
I had to learn to fight for myself
I hope your soul is changing
I hope you find your peace
falling on your knees
praying“

Und, in „Learn to let go“:

„I think it’s time to practice what I preach
Exorcise the demons inside me
Whoa, gotta learn to let it go
The past can’t haunt me if I don’t let it
Live and learn and never forget it
Whoa, gotta learn to let it go“

Gut platziert

Somit haben die Energie, die Wandlungsfähigkeit und der freche Habitus ihre Richtung gefunden: die Emanzipation einer Frau in einem männerdominierten Business. Auch, wenn sie den Mann des Anstoßes nicht wirklich losgeworden ist: Dr. Lukes Vertrag läuft, und er steht in den Credits des Albums. Aber die Message, sich Übergriffe am Arbeitsplatz nicht gefallen zu lassen, ist auf Platz eins der Billboard-Charts zu Recht prominent platziert und erreicht dort (auch) eine Zielgruppe, die von emanzipatorischer Medienberichterstattung und Literatur wenig mitbekommt. Und Kesha ist zumindest auf dem besten Weg, ihrer Nemesis zu entkommen. Kein Vertrag währt ewig.

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