Das Eigenleben von Erinnerungen
„Die Königin schweigt“ erzählt vom Leben einer ungewöhnlichen Frau, die ein recht gewöhnliches Leben führt. So weit, so unspektakulär, doch Laura Freudenthaler überzeugt in ihrem Debütroman mit formaler Brillanz, Intuition und Stilsicherheit.
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Mit ihrem Erstling, dem Erzählband „Der Schädel von Madeleine“, zeigte Freudenthaler ihr Talent für komplizierte Liebesgeschichten. Um die vergleichsweise schlichte Geschichte von Fanny zu erzählen, entschied sich Freudenthaler für die Romanform. Der (ganz) kurzen Form bleibt sie aber auch in ihrem ersten Roman treu, er ist in Kürzestkapitel von oft wenig mehr als einer Seite unterteilt.
Keine Märchen aus dem Dorf
An Anfang steht ein Dialog zwischen Großmutter und Enkeltochter: Das Kind bettelt um „Geschichten aus dem Dorf“, in dem Fanny in den 30er Jahren als Bauerntochter geboren wurde und aufwuchs. Auch als Erwachsene lässt die Enkelin nicht locker und will mehr wissen: „Nicht deine Märchen aus dem Dorf, hatte sie gesagt. Die wirkliche Vergangenheit.“ Die bekommt sie nur bruchstückhaft zu hören. Dabei kann sich die alte Frau noch gut erinnern, und so lässt die Autorin einzelne Bilder im Rückblick auftauchen und wieder verblassen.
Die Mutter als Hausgeist
In Fannys Familie bedeuten Haltung und Ansehen alles. Nachdem der Bruder, der einzige Sohn der Familie, im Krieg gefallen ist, müssen die Eltern den Hof verkaufen – für sie der Anfang vom Ende, wofür Fanny sich schuldig fühlt. „Die Mutter, als habe sie sich schon seit vielen Jahren auf die Unsichtbarkeit vorbereitet, war nun endgültig zum Hausgeist geworden.“
Der Schulmeister, den Fanny heiratet, ist eine gute Partie, aber sie fühlt sich von ihm im Stich gelassen, weil er keine Anstalten macht, den Hof ihrer Eltern zu übernehmen. Anders als er ist Fanny tüchtig: In der Dorfschule führt sie ein kostenloses Mittagessen für Schulkinder ein, die in der Nachkriegszeit oft nicht genug zu essen bekommen.
Das Gewicht der toten Männer
Vom Vater hat sie gelernt, immer „Haltung“ zu bewahren: Es ist wichtig, nicht eitel zu sein, sich richtig zu kleiden, das Falsche nicht zu sagen. Später zeigt sich, dass sich hinter der Fassung des Vaters große Schwäche und Angst verborgen haben müssen: Er ist einer von mehreren Männern, die sich im Roman das Leben nehmen. Die Frauen im Roman schleppen die toten Männer als „großes Gewicht“ mit sich herum.

Droschl Verlag
Buchhinweis
Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt. Droschl Verlag, 208 Seiten, 20 Euro.
Das alles erzählt Freudenthaler in denkbar ruhigem Duktus und schnörkelloser Sprache. So kommen auch die schrecklichen und tragischen Vorfälle in Fannys Familie unspektakulär daher, und davon gibt es viele: Todesfälle, Depressionen, ein verlorenes Zuhause, Alkoholismus, Krankheit und Suizide. Fanny bewahrt die Fassung, nur ganz selten blitzt so etwas wie Zorn, Leidenschaft bei ihr auf. Dann lebt sie ihre Aggressionen fast manisch in harter Arbeit aus.
Nicht die Fassung verlieren
Elegant lässt Freudenthaler beim Ausmalen dieser Lebensgeschichte die Zeitebenen ineinanderfließen - in der Art, die Welt zu begreifen, wie Fanny selbst es tut: „Fanny wusste, dass die Wirklichkeit gefügt war aus verschiedenen Ebenen und dass ein Mensch in seinem Leben immer mehrere war. Das Leben zu bewältigen hieß, mit den verschiedenen Gesichtern zurechtzukommen und darüber nicht die Fassung zu verlieren.“
So verwandelt sich etwa das Gesicht ihres Sohnes vor Fannys Augen in jenes des verstorbenen Ehemanns und mit dem Gesicht auch Fannys Gedanken und der Erzählfluss. Als alte Frau kann sie „durch die Zeit“ in ihre Kindheit reisen, dann sitzt sie als kleines Mädchen auf dem Hof ihrer Eltern und schaut ihrem Vater bei der Arbeit zu.
Der Pfarrer blitzt ab
Fanny, die „schöne Fanny“, wie ein Liebhaber sie gern anspricht, wirkt auf die Männer. Abgeneigt ist sie ihnen nicht: Nach dem frühen Unfalltod ihres Mannes hat sie die eine oder andere Affäre, bleibt jedoch gerne ein bisschen auf Abstand. Den Pfarrer, der sie anhimmelt, lässt sie abblitzen. Das Verhältnis zu ihrem einzigen Sohn wird über die Jahre immer komplizierter.
Horror und Trost auf der Plastikunterlage
In der Nacht wird alles anders für Fanny. Sie fürchtet sich im Dunkeln. Später, als ihre Toten mehr und mehr werden, kommen sie in Tag- und Nachtträumen als Gespenster zu ihr. Fanny nimmt diese Erscheinungen hin wie vieles andere auch. Einige Passagen sind allerdings haarsträubend und überschreiten die Grenze zum Horror. Aber wenn sich Fanny als ganz alte Frau auf ihrer matratzenschonenden Plastikunterlage umdreht und ihren toten Mann neben sich wahrnimmt, hat das auch fast etwas Tröstliches.
Die Vergangenheit als Ort
Je älter Fanny wird, desto mehr zieht sie sich zurück. Lächelnd verweigert sie der Enkelin weiterhin „die Wahrheit“ über das Leben im Dorf, wie es früher war: „Du kannst doch nicht nie über irgendetwas reden, sagte die Enkeltochter zu Fanny (...)“ Die Großmutter bannt die Vergangenheit an einen Ort: Es gebe ja „doch das Dorf überhaupt nicht mehr. Fanny wusste nicht, wie sie das dem Kind begreiflich machen konnte.“
In „Die Königin schweigt“ herrscht ein Gefühl der Schwere, der Schwermut vor. Dazu trägt das schwammige, deprimierende Cover-Design unnötigerweise bei. Dass das Buch ganz ohne Absätze und Einrückungen auskommt, macht die Lektüre etwas anstrengend. Freudenthalers ganz eigene Erzählweise macht das aber wett, ihre schweigsame „Königin“ berührt.
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Johanna Grillmayer, ORF.at